Letzter Akt im Theater an den Großen Bleichen: Tausende Besucher kamen zur Versteigerung. Am Hauptbahnhof gehen die Vorstellungen weiter.

Neustadt. Im Ohnsorg-Theater kämpfen sie an diesem Tag. Manche kämpfen mit ihren Erinnerungen und streichen versonnen an den rot marmorierten Wänden des alten Saals entlang. Andere kämpfen mit sich selbst. Sie kauen Nägel, blicken in ihr Portemonnaie, sprechen lautlos die Zahlen mit, die vorne aufgerufen werden. Die meisten aber kämpfen um ein Andenken: stumm, mit erhobenen Händen. Sie überbieten sich im Wettstreit um kleine Bühnenmodelle, rote Sessel und eine geblümte Kittelschürze von Heidi Kabel. Es ist Sonnabendvormittag im Ohnsorg-Theater, der Tag der Inventarversteigerung. Der letzte Vorhang fiel schon am Vorabend, aber heute sind mehr Besucher im Theater als bei jeder Vorstellung zuvor. Das Ohnsorg räumt auf. Ausverkauf nach 75 Jahren.

Die Stuhlreihen im Parkett sind schon abgebaut, sie gehen an das Theater "Lachmöwen" in Laboe bei Kiel. Klein und nackt wirkt der rote Saal. Dunkle Flecken an den Wänden zeigen, wo gestern noch Lampen hingen. Vor der Bühne stehen die Besucher dicht gedrängt. Über ihnen thront Schauspieler Wolfgang Sommer, schwenkt den Holzhammer und ruft dröhnend in die Menge: "Hundertzehn zum Ersten, zum Zweiten und zum ... Dritten!" Damit ist das kleine "r" aus dem Schriftzug des Ohnsorg-Theaters, der bis gestern noch am Stahltor hing, verkauft. Alles, was nicht mit umziehen wird ins neue Theater im Bieberhaus, wird hinter Sommer auf der Bühne gesammelt: ein künstlicher Eselskopf, Fotos, ein paar alte Sessel. Und auch die roten Buchstaben liegen verstreut herum. Jetzt werden sie einzeln verkauft.

Für Rita Heineken, 54, frisch gebackene Besitzerin des kleinen "r", ist es ein Stück Kindheit, das sie plötzlich in den Händen hält: "Wir haben immer sonnabends vor dem Fernseher gesessen und Ohnsorg-Stücke geguckt", sagt sie. "Es gibt nur wenig, was einen von so klein auf bis ins Alter begleitet."

Draußen, auf einem kleinen Flohmarkt, reißen sich die Besucher um alte Schwarzweißfotos von Ernst Grabbe und Werner Riepel. "Schlimmer als Nahkampf!", stöhnt Stefan Bürger, 41, und schiebt sich mühsam aus der Menge. Er hat nach Fotos von Heidi Kabel gesucht, aber der größte Ohnsorg-Star war natürlich als Erstes weg. "Heidi", sagt Stefan Bürger verträumt, "ist eben die Mutter aller Hamburger Jungs." Er hat ihr Bild auf seinem Nachttisch stehen, erzählt er stolz, inmitten seiner Familienfotos. "Heidi gehört einfach zur Familie. Genau wie das Ohnsorg. Das ist ein eigenes Hamburger Lebensgefühl. Ein ganz besonderer Zusammenhalt."

Es war im August 1902, als eine etwas sperrige Anzeige in den Hamburger Zeitungen erschien: "Eine zu gründende Theater- und Gesellschaftsvereinigung, die beabsichtigt, unter fachkundiger Leitung erstklassische Werke in möglichster Vollendung aufzuführen, sucht noch feingebildete Damen und Herren aus angesehenen Kreisen als tätige oder passive Mitglieder." Anfangs las die "Dramatische Gesellschaft" hochdeutsche Stücke. Im Jahr 1910 übernahm der Hamburger Philologe Richard Ohnsorg den Vorsitz, von nun an wurde auf Plattdeutsch gespielt. 1937 zog das Theater in das Kontorhaus an den Großen Bleichen ein.

Generationen von Hamburgern und Fans sind seither durch diese Räume gegangen, haben als Zuschauer die samtenen Sitze durchgesessen oder sich als Schauspieler auf der Bühne op Platt gestritten und geliebt. Auf diesen Brettern hat Heidi Kabel in "Tratsch im Treppenhaus" leidenschaftlich gegen Henry Vahl intrigiert, hier spielte Otto Lüthje in "Das Hörrohr" den schwerhörig-verschmitzten Opa Meiners. Die Bretter sind morsch geworden, die Sessel abgewetzt. Im neuen Haus wird es edlere Sitze geben und mehr Platz.

15 Millionen Euro kosten der Neubau des Theaters und der Umzug. Wenigstens einen kleinen, wenn auch nur symbolischen Teil des Geldes soll heute die Versteigerung einbringen. Es ist ein Abschied und Aufbruch. Wehmütig sind alle, die hier sind. Aber viele freuen sich auch aufs neue Haus.

Mittendrin im Trubel steht Intendant Christian Seeler und kann es kaum fassen: "Mit so einem Andrang hätte ich nie gerechnet." Freitag, in der Pause des letzten Stückes, hat er Taschentücher mit der Aufschrift "Atschüß, altes Haus!" verteilen lassen. "Aber das Besondere am Ohnsorg-Theater war schon immer die Nähe, die Wärme, die Vertrautheit. Und das wird bleiben. Wir haben unsere Koffer gepackt. Aber Herz und Seele haben wir mit eingepackt."

Hinter ihm wird Wolfgang Sommer noch immer nicht heiser. Ein paar Stühle sind für mehr als 500 Euro weggegangen, Stefan Bürger geht mit Fotos und einem Bühnenbildmodell nach Hause.

Der letzte Akt im alten Theater neigt sich dem Ende zu. Die Besucher verlassen den Saal bepackt mit Kleidern und alten Plakaten. Draußen an der Tür hängt ein Zettel. Jemand hat die Zeilen niedergeschrieben: "Im Ohnsorg sagt man 'Tschüß', das klingt vertraut und schön. Und wer einmal im Ohnsorg war, der kann das gut verstehn. Tschü-üß!"