Die Psychologen Angélique Mundt und Malte Stüben helfen Opfern und Rettungskräften, das Erlebte zu verarbeiten. Wie beim Unfall von Eppendorf.

Krieg. Eine Straße mit Autowracks, Trümmerteilen, verletzten Menschen. Toten. Das kennen die meisten nur aus den Nachrichten. Aus anderen Ländern. Nicht aus Hamburg. Trotzdem sagt Angélique Mundt, es sei wie im Krieg gewesen - mitten in Eppendorf. An jenem 12. März, als sich einer der schwersten Verkehrsunfälle in der Geschichte Hamburgs ereignete. Als vier Menschen starben, weil ein Auto auf den Fußgängerweg raste. Als an einem schönen Tag ein Stück heile Welt zertrümmert und ein Innenstadtviertel zum Kriegsschauplatz wurde. Und als Angélique Mundt zu Hilfe kommen musste.

Wenn bei Angélique Mundt, 45, das Handy klingelt, in diesem ganz speziellen Klingelton, der nur für ein paar Anrufer reserviert ist, weiß sie sofort, dass irgendwo eine Katastrophe passiert ist und Menschen seelische Unterstützung benötigen. So wie bei dem schweren Unfall in Eppendorf, dem Busunglück in Tonndorf, dem Amoklauf in Hamm oder dem Mord an einer Krankenschwester in Großhansdorf. Angélique Mundt war überall. Aber so etwas wie in Eppendorf habe sie noch nie erlebt, noch nie gesehen. Das Heer von Krankenwagen und Polizeiautos. Die Berge von Verbandsmaterial auf der Straße, weiß auf grauem Asphalt. Das zertrümmerte Auto, unter dem die Hand eines Menschen zu sehen war. Ein umgekippter Kinderwagen, verstreute Einkaufstüten. Ein Apfel auf der Straße. Unzählige dieser Bilder sind haften geblieben. Manchmal flackern sie als Puzzleteile auf, manchmal fügen sie sich zu einem Bild zusammen. Zu dem Bild einer Katastrophe, einer Kriegsszene.

Eppendorf, Hamm, Tonndorf. Synonyme für Tragödien. Über die Opfer, Angehörigen und Augenzeugen ist viel geschrieben worden, über die Helfer nicht. Über die Feuerwehrleute und Notärzte, Polizisten und Mitarbeiter vom Kriseninterventionsteam - so wie Angélique Mundt. Helfer. Helden. Auch wenn sie sich selbst nie so nennen würden. "Wir brauchen keine Helden, sondern Menschen", sagt Angélique Mundt und meint: Menschen, die mit den Betroffenen fühlen, weinen. Die manchmal selbst keine Worte finden, aber Hände halten. Die zuhören, schweigen und aushalten. Situationen, die man kaum aushalten kann.

Situationen wie nach dem Mord des 19-Jährigen Mel am Bahnhof Jungfernstieg. Als ein Polizist die Freunde des Toten umarmt, "So ein Scheiß" sagt - und mit ihnen weint. Situationen wie die im Institut für Rechtsmedizin, als sich eine türkische Familie von ihrer toten Tochter verabschiedet. Mit Klagegesang und einer stummen Verbeugung. Und Situationen wie die in Eppendorf. Als eine Augenzeugin Erste Hilfe leistet, dann nach Hause fährt - und Stunden später zurück zur Unfallstelle kommt. Zuerst merkwürdig ruhig und distanziert. Bis ihr bewusst wird, dass sie selbst nur knapp überlebt hat - und sie selbst Hilfe braucht.

Doch wie gehen die Helfer damit um? Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat. Jahrelang. Wie schaffen es die Rettungskräfte, immer stark zu sein, wenn andere schwach sind? Wie gehen sie damit um, wenn der Dienst vorbei ist, die Erinnerung aber bleibt? Danach fragen wir meistens nicht. Vielleicht, weil es immer noch ein Tabu ist, über psychische Belastungen von Einsatzkräften zu sprechen. Oder weil wir immer noch das Bild vom starken Retter im Kopf haben und glauben, diese Leute würden nur ihren Job machen.

Es sind Menschen wie Angélique Mundt und Malte Stüben vom Kriseninterventionsteam (KIT) des Roten Kreuzes im Kreisverband Hamburg-Harburg. Zwei Menschen, die in Eppendorf im Einsatz waren und stellvertretend für Tausende von Helfern stehen, die nicht nur ihren Job machen - sondern mehr geben. Menschlichkeit. Mitgefühl. Ein Stück von sich selbst.

Es ist ein Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, zwischen Mitleiden und Abgrenzen. "Kein Einsatz ist Routine, kein Schicksal ist wie das andere. Wir müssen uns jedes Mal neu auf die Situation einlassen. Das geht aber nicht, wenn wir nach einem vorgefertigten Muster vorgehen und 'nur' unseren Job machen", sagt Angélique Mundt. Seit zwei Jahren arbeitet die Diplom-Psychologin ehrenamtlich beim KIT. Weil sie helfen will. Sofort. Wenn die Not am größten ist. Bevor die Menschen traumatisiert sind, so wie viele der Patienten in ihrer Praxis. Und weil sie weiß, wie wichtig Erste Hilfe für die Seele ist. Für die Opfer - und die Helfer.

"Psychosoziale Notfallversorgung", kurz: PSNV, nennen Experten das und meinen damit alle Maßnahmen und Vorkehrungen, mit denen Betroffenen die Verarbeitung von Katastrophen ermöglicht werden soll. Der Begriff steht für Notfallseelsorge und Krisenintervention, für die kurz- und langfristige Verarbeitung von traumatischen Ereignissen. "Seit Katastrophen wie dem Zugunglück von Eschede weiß man, dass auch Helfer mal Hilfe brauchen", sagt Michael Steil. Er ist Bundeskoordinator für Psychosoziale Notfallversorgung des DRK und hat ein Buch über das Thema geschrieben. Titel: "Einsatzstress? So helfen Sie sich und anderen!"

Anderen helfen, sich selbst helfen oder sich helfen lassen - das setzt sich langsam durch. Deswegen wird das Thema bereits in der Ausbildung zum Rettungsassistenten behandelt. Und deswegen widmet sich das Kriseninterventionsteam immer mehr der Einsatznachsorge der Mitarbeiter. "Je besser die Kollegen nach belastenden Einsätzen aufgefangen werden, umso länger können sie die Aufgabe machen", sagt Malte Stüben, 35, fachlicher Leiter vom KIT. Durchschnittlich drei bis fünf Jahre bleibt ein Ehrenamtlicher beim KIT. Malte Stüben ist seit neun Jahren dabei.

Neun Jahre KIT, das bedeutet neun Jahre Einsatz in Ausnahmesituationen. Bei Opfern von Raubüberfällen und schweren Unfällen. Bei Augenzeugen von Suiziden oder Amokläufen. Bei Menschen, die einen Angehörigen verloren haben. Neun Jahre voller Tragödien, voller Erinnerung. Bilder, Namen, Orte. Meistens sind es die Orte, die bei Malte Stüben die Erinnerung hervorrufen. Ein Kirchturm, von dem ein Mädchen gesprungen ist. Ein See, in dem ein Kind ertrunken ist. Die Straße Butenfeld mit dem Institut für Rechtsmedizin, wo ein Vater seine beiden toten Söhne identifizieren musste. Und die Bäckerei in Eppendorf, vor der das Autowrack lag. Darunter war die Hand eines Menschen zu sehen.

Bilder mögen irgendwann verblassen, die Orte bleiben für Malte Stüben jedoch für immer mit der Situation behaftet. Wie er damit umgeht? Pragmatisch. "Man lernt, damit zu leben", sagt Malte Stüben und meint: Die Erinnerung nicht zu verdrängen, sondern zuzulassen. Sie ins Leben zu integrieren und keine Angst vor ihr zu haben. Schließlich gebe es auch viele gute Erinnerungen. An Betroffene, die mit seiner Hilfe die Schockstarre überwunden haben. Erinnerungen an Menschen, die sich Monate oder Jahre später noch einmal melden, um sich zu bedanken.

Wenn man Malte Stüben und Angélique Mundt fragt, wie sie besonders schwere Einsätze wie den in Eppendorf verarbeiten, fällt immer wieder der Begriff Psychohygiene. Die Pflege der Seele, der Schutz der eigenen psychischen Gesundheit. Denn die Psyche leidet bei Einsätzen, darüber sind sich Experten einig. Studien haben ergeben, dass 30 bis 70 Prozent der Befragten nach einem Rettungseinsatz unter Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Angstzuständen leiden. Einige mehr, andere weniger. Die Belastbarkeit hängt auch davon ab, wie gut oder schlecht es den Helfern privat geht, ob sie in einem stabilen sozialen Umfeld leben und ihre Arbeit als sinnvoll erleben.

Das ist es auch, was Angélique Mundt Kraft gibt. Zu wissen, dass ihr Einsatz Sinn macht, auch wenn die Tragödie sinnlos ist. "An der Situation kann ich nichts ändern. Aber ich kann den Menschen helfen, sie zu überstehen", sagt Angélique Mundt und erzählt von ihrem Einsatz in Eppendorf. Wie es war, in der Nacht die Todesnachrichten zu überbringen. Zu erleben, wie sich ein Betroffener bei ihrem Anblick die Hand vor den Mund geschlagen hat, noch bevor sie ein Wort gesagt hat. Daran wird sie sich vermutlich immer erinnern. Vielleicht noch mehr als an die Bilder vom Unglücksort. Vom Krieg.

Bilder mögen verblassen, Worte bleiben. Nach jedem Einsatz, egal wie spät oder früh es ist, schreibt Angélique Mundt Tagebuch. Das Aufschreiben hilft ihr, das Erlebte zu sortieren und abzulegen. Genauso, wie sie nach einem Einsatz die getragene Kleidung auszieht, um das Erlebte symbolisch abzulegen. Zumindest für den Moment.

Denn die Erinnerung an Eppendorf wird bleiben. Bei Angélique Mundt, bei Malte Stüben und vielen anderen Helfern. Weil der Unfall ein Stück heile Welt zerstört hat. Weil das Unglück plötzlich so nah war. Nicht weit weg in einem anderen Land, sondern mitten in Eppendorf. An einem ganz normalen Sonnabend, als die Menschen an alles Mögliche gedacht haben. Nur nicht an so etwas wie Krieg.