Ab sofort dürfen Hamburger Grundschulen selbst entscheiden, ob Kinder die klassische Schreibschrift oder eine verbundene Druckschrift lernen.

Postboten sollten nicht zweimal klingeln müssen, sondern sofort den Empfänger finden. Vor 40 Jahren erhielten die gelben Staatsdiener ein Merkblatt, damit sie Adressen entziffern konnten, die noch in Sütterlin geschrieben waren. "Nur Briefträger müssen noch 'deutsch' lernen", titelte eine Boulevardzeitung im Februar 1970 - damals lief eine Verfügung aus, nach der Schulanfänger noch jene Handschrift der "deutschen" Frakturschrift lernen sollten. Die Nationalsozialisten hatten 1941 stattdessen die "lateinische Schrift" eingeführt, die internationalere, im Wahn der Weltherrschaftspläne. Aber damit Enkel noch die Briefe ihrer Großeltern lesen konnten, wurde Sütterlin nach Kriegsende wieder gelehrt, mehr oder weniger jedenfalls.

"Unsere Schüler sehen nicht ein, wozu sie eine Schrift erlernen sollten, mit der sie weder der Brieffreundin in London noch in Stockholm schreiben können", sagte ein Lehrer damals.

Gut dass man nicht unbedingt die Nazi-Vergangenheit bemühen muss, um zu erkennen, dass sich Handschriften immer wieder verändern. Zwei Paradigmen sind zu unterscheiden: War Sütterlin, bezeichnet als die "Deutsche Handschrift", noch eine Normschrift, die unter Drill bis zur Perfektion einstudiert wurde, ist seit den 1950er-Jahren von Ausgangsschriften die Rede; sie dienen, je nach pädagogischer Auffassung, als mehr oder weniger verbindliche Orientierung. Handschrift und staatliche Bildung, das ist stets ein Konflikt zwischen Normierung und Individualität, zwischen pragmatischer Ausbildung und politischem Gestaltungswillen. Während Gegner der Reformen den "Verlust von Kulturgut" beklagen, argumentieren Befürworter mit Lernfreiheiten, veränderten Lebenswirklichkeiten - und auch dass es Wichtigeres im Leben gebe, als dass ein "s", per Schleifchen in den Schreibfluss eingebunden ist. Wie Schüler einzelne Buchstaben verbinden sollen, dazu gab es schon immer viele Theorien.

Wenn in diesen Tagen Politiker und Pädagogen darüber streiten, dass in Hamburg gemäß neuem Bildungsplan von kommendem Schuljahr an zusätzlich zur derzeitigen Schreibschrift eine verbundene Druckschrift gelehrt werden kann, ist das eine weitere Episode der jahrzehntelangen Debatte. Heute ist es allen voran Schulreformgegner Walter Scheuerl (parteilos, für die CDU im Parlament), der den Verlust eines "qualitativen Schriftstandards" befürchtet. Auch die Fraktionschefs von CDU und FDP sehen den drohenden Verlust einer gemeinsamen Kultur. Dabei ist die neue Druckschrift keine Idee des politischen Gegners, des Hamburger SPD-Senats. Schon im vergangenen Jahr, damals regierten CDU und GAL, waren die Autoren der Hamburger Bildungspläne auf die neu entwickelte Schrift aufmerksam geworden.

Ulrich Hecker, einem der Entwickler der Grundschrift, ging es nicht um Ästhetik. Dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden des Grundschulverbandes und seinen Kollegen ging es nur um eine bessere Handschrift. Klar und gut lesbar. Drehrichtungswechsel und geflammte Aufstriche (so nennt man die Schnörkel, mit denen die Buchstaben verbunden werden) spielen keine Rolle. Die Grundschrift ist für ihn eine formklare und funktionale Schrift, deren Buchstaben sich nah an der Druckschrift orientieren, aber durch kleine Wendebogen am Ende leicht zu verbinden sein sollen.

Seit Mai 2010, seit Hecker und seine Kollegen die Schrift vorgestellt haben, hat Heinz Grasmück den Praxistest und die wissenschaftliche Diskussion verfolgt. Der Referatsleiter, der am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung fachlich für den Rahmenplan verantwortlich ist, zog ein positives Fazit. "Es gibt verschiedene Wege, um zu einer gut lesbaren und flüssigen Handschrift zu gelangen." Die nun vorgeschlagene Grundschrift ermögliche allen den Schülern eine lesbare Handschrift - ohne den "Umweg" über die Schreibschrift. Zumal sich die Handschrift der Schüler ab der fünften und sechsten Klasse ohnehin stark verändere, so Grasmück.

Wie sehr sich Handschriften nach den ersten Schuljahren verändern, kann jeder Erwachsene mit einem Blick auf seinen Notizzettel sehen: Kaum jemand schreibt Wörter durchgehend, jeder gewöhnt sich Unterbrechungen an - höchst individuelle. Experten sagen heute, dass man sogar schneller schreibe, wenn man Druckbuchstaben miteinander verbinde, anstatt die Wörter in einem durchzuschreiben. So lautet auch die schlichte Vorgabe der Kultusministerkonferenz für Grundschüler: "Eine gut lesbare Handschrift flüssig schreiben".

Von Schreibschrift ist keine Rede.

Nicht zum ersten Mal ist eine Druckschrift als einzige zu lernende Schrift im Gespräch. Im Jahr 1990 berichtet das Hamburger Abendblatt über eine anstehende Abc-Revolution, "von der Schreibschrift zum Schreibdrucken". Die Argumentation für den Testlauf damals: Schüler unternehmen erste Schreibversuche in Druckschrift, diese Form ist in Büchern, auf Straßenschildern, auf Computer-Tastaturen präsenter als die Schreibschrift. Warum sollten sie also nach ersten Schreibversuchen mit Druckbuchstaben noch einmal neu schreiben lernen,?

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Grundsätzlich gilt: Lesen lernen Menschen über Druckbuchstaben. Schreiben aber fingen sie noch vor 30 Jahren gleich mit Schreibschrift an - daher auch der Name Ausgangsschrift. Erst seit den 80er-Jahren lernen Grundschüler auch das Schreiben zunächst mit Druckbuchstaben. Von da an mussten sie zwei Schriften lernen - ob das notwendig ist, um eine eigene Handschrift zu entwickeln, auch das ist ein weiterer Streitpunkt.

Die Folgen der stetigen Veränderungen der Schriftformen sind in der heutigen Bildungslandschaft zu spüren. Neben der Druckschrift geistern drei verschiedene Arten von Schreibschriften durch die Bildungspläne, die sich lediglich durch die Ausprägung der verbindenden Schnörkel unterscheiden. In Deutschland herrscht ein regelrechtes Schriften-Wirrwarr. Während jedes Kind in Sachsen, Sachsen-Anhalt und im Saarland beispielsweise die Schulausgangsschrift lernen muss, ist in Bayern die vereinfachte Ausgangsschrift Pflicht. In Baden-Württemberg hingegen entscheidet die Lehrerkonferenz, ob die vereinfachte oder die lateinische Ausgangsschrift gelehrt wird.

Hamburg ist nun das erste Bundesland, das die verbundene Druckschrift als mögliche Option verankert, neben der Schulausgangsschrift. Diese war von 2004 an für jedes Kind Pflicht und wurde übrigens in den 60er-Jahren in der DDR entwickelt. In den 20 Jahren wurde zusätzlich noch die lateinische Ausgangsschrift aus den 50er-Jahren im Hamburger Bildungsplan empfohlen.

"Es darf keinen Zwang zur Verbindung der Buchstaben geben", sagt Professorin Mechthild Dehn. Die Erziehungswissenschaftlerin der Uni Hamburg beobachtet seit Jahrzehnten die Kultur des Schreibens und Lernens. "Mit Details einer Schriftart kann man Schüler auch in den Wahnsinn treiben, dabei ist das Strukturieren von Gedanken doch ebenso wichtig für den Schreibprozess." Gegen die nun vom Grundschulverband empfohlene Druckschrift sei nichts einzuwenden, solange sie eine von mehreren Alternativen bleibe. Lehrer müssten Wahlfreiheit für ihre Schüler haben - gerade bei schwächeren Schülern sei es sinnvoll, sie Druckbuchstaben im eigenen Stil schreiben zu lassen, wenn sie lesbar seien und die Rechtschreibung korrekt.

Wer Schreiben aus der kulturellen Sicht betrachte, müsse sich für die bisherige Schreibschrift einsetzen. Für Druckschrift spreche, dass Schüler bereits sehr früh über Computer kommunizieren, sei es per E-Mail oder Facebook; das alles funktioniert mit Druckbuchstaben. "Es wird viel mehr geschrieben als noch vor 30 Jahren", sagt Dehn. Wenn man so will, sei auch das Teil der Schriftkultur, wenn auch mit neuen Problemen in Grammatik, Stil und Rechtschreibung. Der Grundschulverband hat übrigens schon den nächsten Vorschlag: Grundschüler sollen mit zehn Fingern tippen lernen.