Heute treffen sich 100 von den geschätzten 100.000 “Kleinen“ in Lübeck, um über Chancen und Herausforderungen zu diskutieren.

Lübeck. Man muss nicht groß sein, um groß zu sein. Sagt man. Und: Was zählt, ist nicht die Körpergröße eines Menschen, sondern die Größe seines Charakters. Es sind Redewendungen, Floskeln, aus einer Welt der Norm. Einer Welt, in der Männer rund 1,80 Meter groß werden und Frauen 1,70. In der jeder als klein gilt, der ein paar Zentimeter unter dem Durchschnitt liegt. Der einen "Kopf kleiner ist" oder anderen "nur bis zur Schulter reicht". Doch was sagt man, wenn jemand noch kleiner ist? So klein, dass er an keinen Fahrkartenautomaten heranreicht, keine Post in den Briefkasten einwerfen und über keine Einkaufstheke blicken kann. Der auf öffentlichen Toiletten an kein Waschbecken herankommt, an keine Zapfsäule an der Tankstelle und kaum an einen Knopf im Fahrstuhl. Was sagt man zu jemandem, der ein Leben jenseits der Norm führen und vielleicht nur 120 oder 130 Zentimeter groß ist? Zwerg? Liliputaner? Das sagen die Menschen. Manchmal hinter vorgehaltener Hand, manchmal laut. Nicht immer. Aber oft. "Zu oft", sagt Karin Witt, 66, und erklärt geduldig, was die richtige Bezeichnung für Menschen wie sie ist: kleinwüchsig. Alles andere sei diskriminierend. "Wir sind keine Fabelwesen aus dem Märchen oder Romanfiguren aus 'Gullivers Reisen'. Sondern ganz normale Menschen, die ein bisschen kleiner sind."

Karin Witt möchte nicht registriert werden, nie wieder

Ein bisschen kleiner - das heißt laut Schwerbehindertengesetz kleiner als 1,40 Meter. Der BundesselbsthilfeVerband Kleinwüchsiger Menschen (VKM) hat die Grenze für Kleinwuchs sogar bei 1,50 festgesetzt - "weil die Menschen selbst bei dieser Größe erhebliche Einschränkungen im Alltag haben", sagt Karin Witt, die den BundesselbsthilfeVerband 1968 in Hamburg mitgegründet hat - als ersten Verband dieser Art in Deutschland. Der Klub der Kleinen, wie sich die Gruppe zuerst nannte, hatte sich bereits Anfang der 60er-Jahre über einen Aufruf im Hamburger Abendblatt zusammengefunden, um mit Gleichgesinnten Erfahrungen auszutauschen. Inzwischen gibt es bundesweit sieben Landesverbände mit 400 Mitgliedern. 100 von ihnen treffen sich ab heute in Lübeck zum viertägigen Bundeskongress, um über generationsspezifische Herausforderungen kleinwüchsiger Menschen zu diskutieren.

Es sind 100 von fast 100 000 Kleinwüchsigen, die es in Deutschland gibt. Schätzungsweise. Denn erfasst oder gemeldet werden sie nicht - "zum Glück", wie Karin Witt sagt. Sie will nicht registriert werden, nie wieder. So wie damals im Zweiten Weltkrieg, als ihr Kleinwuchs im Alter von sechs Monaten festgestellt und gemeldet wurde - und Karin Witt "abgeholt" werden sollte. Weggebracht in ein Lager für Behinderte. "Wenn mein Großvater nicht Nazi gewesen wäre und das verhindert hätte, wäre ich vermutlich gestorben", sagt Karin Witt. Sie weiß aus Erzählungen, dass Behinderte oder als behindert eingestufte Menschen wie sie im Nationalsozialismus getötet oder zwangssterilisiert wurden - oder ein Leben lang von den Eltern versteckt wurden.

"Meine Arme und Beine sind zu langsam gewachsen. Und jetzt bin ich zu alt und wachse nicht mehr", Karen Müller

Es ist eine Geschichte aus einer anderen Zeit. Kaum vorstellbar heute. Wenn Karin Witt davon erzählt, presst sie Jahre ihres Lebens in wenige Sätze. Sie erzählt, wie sie auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Schleswig-Holstein aufgewachsen ist und schon als Kind mitarbeiten musste. Wie die Lehrer in der Schule ihr immer eine Bank unter ihren Sitz gestellt haben, weil ihre Füße nicht den Boden berühren konnten. Wie "normal" ihre Kindheit gewesen sei, weil alle Menschen in ihrem Heimatdorf sie kannten und Bescheid wussten, nie gegafft oder getuschelt haben. Und wie sie zum ersten Mal gemerkt hat, dass sie anders ist.

Damals, als sie nach der Schule sieben Jahre lang eine Lehre als Schneiderin suchte - und nicht fand. Weil sie klein ist. Zu klein, um mit dem Fuß eine Nähmaschine zu bedienen. Es sind Jahre, in denen sie auf dem Hof ihre Eltern arbeitet und von der Welt draußen träumt. Bis sie schließlich in Bad Segeberg und dann in Hamburg einen Job findet. Obwohl sie klein ist. 124 Zentimeter.

Es gibt nichts Kleines in der Welt, es kommt auf den Standpunkt an. Auch das sagt man in der Welt der DIN-Normen, in der alles - von der Kleidung bis zur Kücheneinrichtung - auf Normmaße zugeschnitten ist. Schuhe in Größe 27 oder 28 bekommen Kleinwüchsige nur in der Kinderabteilung, Kleidung müssen sie selbst nähen oder ändern lassen, Autos individuell umbauen lassen. Trotzdem sagt Karen Müller, 47, dass sie nicht groß sein möchte. Weil sie trotz - oder gerade wegen - ihrer Größe alles erreicht hat, was sie wollte. Und weil sie die Welt der Großen nicht kennt. Die der Kleinen schon. Es ist eine Welt, in die Karen Müller Mitte der 60er-Jahre hineingeboren wurde. In der sie lernt, sich durchzuboxen - und das Gleiche zu machen wie alle anderen auch. Mit 15 fährt sie Mofa, mit einem Bein auf dem Trittbett, dem anderen auf dem Boden. Mit 18 macht sie ihren Führerschein und eine Ausbildung als Erzieherin. Und mit 40 nimmt sie an den Olympischen Spielen für Behinderte in Athen teil, den Paralympics, und belegt einen vierten und einen sechsten Platz. "Das war groß!", sagt sie und meint: großartig. Wenn Karen Müller mit Karin Witt oder anderen Kleinwüchsigen zusammen ist, nennt sie diese manchmal liebevoll "Ihr Kleinen". Weil sie mit 134 Zentimetern ein bisschen größer ist als viele andere. Eine Große in der Welt der Kleinen.

Es ist ein Wortspiel, mehr nicht. Denn eine Welt der Kleinen gibt es nur in der Fantasie, in "Gullivers Reisen". In der Realität leben Kleinwüchsige in der gleichen Welt wie alle anderen. Sie kaufen in den gleichen Supermärkten, arbeiten in den gleichen Firmen und gehen in die gleichen Restaurants. Und trotzdem ist ihr Leben nicht das Gleiche. Weil jeder Stuhl und jeder Tisch, jeder Lichtschalter, jeder Münzschlitz und jedes Regal zu hoch für sie ist. Weil sie Fremde um Hilfe bitten müssen, wenn sie Geld am Automaten abheben wollen, ein Parkticket bezahlen möchten oder im Supermarkt etwas aus den oberen Regalen brauchen. Und weil sie nicht nur klein, sondern in allem eingeschränkt sind. So sehr, dass Kleinwuchs als Behinderung angesehen wird. "Und das ist gut so", sagt Karin Witt. Denn ohne diese Anerkennung bekämen Betroffene keine Zuschüsse für den Umbau des Autos oder der Wohnung. Karin Witt hat ihre Wohnung in Lokstedt auf ihre Bedürfnisse abgestimmt. Die Arbeitsplatte in der Küche ist nur 60 Zentimeter hoch, ihr Bett nur 1,50 lang. Ihr Großvater hat es für sie gebaut, als sie noch ein Kind war.

Man muss nicht groß sein, um großartig zu sein

Spiegel und Toilette im Badezimmer hängen tiefer und im Wohnzimmer steht ein Heimtrainer im Mini-Maß. Es erinnert an ein Puppenhaus.

Seit mehr als 30 Jahren wohnt sie hier. Anfangs zusammen mit ihrem Partner, jetzt allein. "Er ist gestorben", sagt Frau Witt. Mehr nicht. Sie hat gelernt, alleine zurechtzukommen. Ohne ihren Partner, ohne Eltern und ohne enge Freunde. "Ich verlasse mich am liebsten auf mich selbst", sagt sie. Einsam sei sie aber nicht, darauf legt sie großen Wert. Sie arbeitet ehrenamtlich in der Kirchengemeinde, engagiert sich im Bundes- und LandesselbsthilfeVerband Kleinwüchsiger Menschen und spielt seit Jahren Theater. Nicht auf einer Freizeitbühne, sondern bei den Festspielen von Bayreuth oder im Schauspielhaus. Frau Witt mag es, in andere Rollen zu schlüpfen. Jemand anders zu sein.

Man muss nicht groß sein, um groß zu sein. Das beweist Karen Müller jeden Tag. Sie arbeitet als Erzieherin und unterstützt andere kleinwüchsige Sportler. Einen Freund hat sie nicht. "Derzeit nicht", betont sie. Aber das liege nicht an ihrer Größe. Was für sie Größe ist? Selbstbewusstsein. Selbstvertrauen. Aber keine Körpergröße. Wenn Karen Müller mitbekommt, dass Erwachsene über sie tuscheln oder Kinder auf sie zeigen, sucht sie am liebsten das Gespräch und erklärt, warum sie so klein ist. Dann sagt sie Sätze wie diesen: "Meine Arme und Beine sind zu langsam gewachsen. Und jetzt bin ich zu alt und wachse nicht mehr." Das ist ihre Art, Vorurteile abzubauen. Das ist ihre Art, Größe zu zeigen. (abendblatt.de)