Der Islam-Experte Prof. Dr. Raoul Motika, 49, ist Sprecher des Türkei-Europa- Zentrums an der Uni Hamburg

Hamburger Abendblatt:

1. Wie ist der Wahlsieg des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan innenpolitisch einzuschätzen?

Prof. Dr. Raoul Motika:

Erdogan hat zwar einen großen Wahlsieg eingefahren, aber in keiner Weise das erreicht, was er erwartet hatte. Insbesondere wenn man berücksichtigt, dass ein Teil der kleinen Rechtsparteien in der Zwischenzeit völlig verschwunden war und die Stimmen Erdogans AKP zugute gekommen waren. Betrachtet man dies als Lagerwahlkampf, dann hat die AKP kaum zusätzliche Stimmen gewonnen.

2. Unter Erdogan wurde die Türkei zu einer Wirtschaftsmacht; was ist sein Erfolgsrezept?

Motika:

Die Wirtschaftsreformen sind schon eingeleitet worden in der Vor-AKP-Koalition. Doch der entscheidende Punkt ist: Die Türkei hat keine Koalitionsregierung mehr wie viele Jahre zuvor, sondern eine handlungsfähige Regierung, die versucht, mit Großprojekten und Privatisierungen die Staatsverschuldung herunterzubringen und die Türkei mit sehr starker Exportorientierung in die Weltwirtschaft einzubinden.

3. Wirft man Erdogan zu Recht ein zunehmend autokratisches Gebaren und die Knebelung der Presse vor?

Motika:

Bei ihm und Teilen seiner Regierung sind autoritäre Tendenzen zu beobachten. Doch ein Teil dieser Journalistenverfolgung geht noch auf die Rechnung der traditionellen, nach dem Militärputsch von 1980 verabschiedeten Verfassung und der damit verbundenen Gesetze. Wir haben also eine Mischung aus traditioneller Repression, einer noch nicht vollständigen Demokratisierung und autoritären Tendenzen bei Erdogan - vor allem, wenn er sich persönlich angegriffen fühlt.

4. Ist Erdogan ein verkappter Islamist?

Motika:

Wenn man unter einem Islamisten jemanden versteht, der das System stürzen und eine auf islamischem Recht beruhende Staatsordnung einführen will, kann man das eindeutig verneinen. Er ist ein konservativer Muslim, der aber selbstbewusst und weltoffen die Türkei modernisieren will. Unter der AKP ist die frauenbezogene Gesetzgebung wesentlich liberaler geworden als vorher.

5. Was halten Sie von dem Argument einiger Experten, die Türkei werde als Regionalmacht viel zu groß, um in die EU zu passen?

Motika:

Natürlich wird die Türkei - das können wir auch in der Syrien-Krise beobachten - wieder zu einem wichtigen regionalen Akteur. Doch das widerspricht nicht einer möglichen EU-Mitgliedschaft. Zur Friedenssicherung und Stabilisierung gerade im äußerst heiklen Mittelmeerraum wäre eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU von Vorteil - für die EU ebenso wie für die Türkei. Auch deshalb, weil die Türkei derzeit dazu neigt, ihre außenpolitischen Möglichkeiten zu überschätzen.