Aus Verzweiflung verschenkten Händler ihr Gemüse in der Innenstadt - nach der EHEC-Entwarnung griffen viele zu

Hamburg. In der Nacht um zwei Uhr laden sie die fünf Lastwagen mit Kartons voller Gurken, Romana-Salaten und Kohlrabiköpfen am Hamburger Großmarkt, dann geht es noch im Dunkeln zum Rathausmarkt. "Ein Zeichen" wolle man setzen, sagt Jens Elvers von der Hamburger Erzeugergemeinschaft, zu der gut 100 Gemüseproduzenten aus der Metropolregion zählen. Ein Zeichen ihrer Verzweiflung, weil die ganzen fünf Lkw-Ladungen sonst hätten weggeschmissen werden müssen, da wegen der EHEC-Epidemie keiner mehr solches Gemüse kaufen mochte. Nun wollen sie es lieber an die Hamburger verschenken.

Als die zehn Händler vor dem wuchtigen Rathaus ihren ersten Stand aufbauen, ahnen sie noch nicht, was Stunden später in Berlin verkündet wird. Die tagelange Warnung vor Tomaten, Gurken und Salat sei aufgehoben, so wird Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner verkünden. Die Suche nach dem Erreger konzentriere sich nun einzig auf Sprossen.

Eine überraschende Wendung in diesem Gemüse-Drama. Während die Darmkrankheit EHEC früher eher mit Rohmilch oder nicht durchgegartem Fleisch in Verbindung gebracht worden war, hatte sich bei dieser besonders heftigen Epidemie früh der Verdacht auf Rohkost gerichtet, weil besonders Menschen erkrankten, die sich nach langläufiger Meinung ausgesprochen gesund ernähren. Am 25. Mai warnte das Robert-Koch-Institut dann das erste Mal vor Tomaten, Gurken und Salat. Danach kam der Handel damit quasi zum Erliegen. Umsatzeinbußen von bis zu 80 Prozent zwangen die Betriebe in die Knie. "Eine Katastrophe, die für viele zur Existenzkrise wird", sagt Evers. Dabei sei das Gemüse aus der Region absolut frei von EHEC und daraufhin auch immer wieder geprobt worden.

Auf dem Rathausmarkt können die Hamburger Gemüseerzeuger ihre Ware aber dann doch nicht loswerden. Wegen der Bannmeile verweisen Polizisten sie an die nahe Mönckebergstraße. Dort ist am frühen Morgen nicht viel los. Hin und wieder eilt ein Büromensch vorbei. "Wollen Sie eine Gurke, die ist kostenlos!", ruft Gemüsehändlerin Eva-Maria Wedeman. Doch die wenigen Menschen hasten vorbei, Gurken und Infoheftchen über EHEC-freies Gemüse aus der Region bleiben liegen.

Das ändert sich gegen neun Uhr - als die Gurken-Entwarnung aus Berlin über Online-Medien und Radio verbreitet wird. "Plötzlich sind wir Tüte um Tüte losgeworden, manche wollten sogar freiwillig bezahlen", sagt Erzeuger-Vertreter Elfers später. Die überraschende Bilanz: Drei der fünf Lkw-Ladungen fanden dann doch Abnehmer. Deutet sich damit ein Ende der Absatzkrise für Gemüsebauern an, die in den vergangenen Tagen bundesweit noch Verluste von 60 Millionen Euro beklagten? Ein wenig Hoffnung in diese Richtung scheint im Laufe des Tages die Lage auf den Hamburger Wochenmärkten anzudeuten. So herrscht am Nachmittag beispielsweise auf dem kleinen Bio-Wochenmarkt an der Langen Reihe schon wieder eine entspannte Stimmung. Die große Aufregung um EHEC scheint viele hier nicht zu beeindrucken. Peter Langlo, 51, ist mit dem Fahrrad hierhergekommen, am Lenker hängt eine Tüte mit Salat, im Rucksack sind Gurke und Tomaten verstaut. "Das habe ich lange vermisst", sagt er über das eben gekaufte Gemüse. Langlo hatte schon am Morgen im Internet von der Entwarnung gelesen.

An dem großen Gemüsestand nebenan herrscht reger Betrieb. Immer mehr Kunden haben mittlerweile von der Entwarnung gehört. Hier sei der Einbruch beim Verkauf des Gemüses aber auch trotz der Warnung nicht so groß gewesen, sagen die Mitarbeiter. "Wir konnten die Kunden gut überzeugen, weil viel Gemüse aus Schleswig-Holstein kommt", sagte eine Verkäuferin.

Peter Hundert ist einer dieser Kunden. Er hat sich von den Warnungen nicht beeinflussen lassen. "Ich habe fleißig weitergegessen", sagt der 36-Jährige und lacht. Genauso geht es Sandra Noack, 28. Sie trägt in ihrer Tasche ein Kilo Tomaten, zwei Gurken ragen oben heraus. "Solange man nicht wusste, was wirklich der Auslöser für EHEC ist, habe ich normal weitergegessen", sagt sie. "Und ich lebe noch."

Dennoch: Gut die Hälfte der Verbraucher hat während der EHEC-Krise nach einer Forsa-Umfrage ihre Ernährung umgestellt, wich lieber auf Tiefkühlkost oder Dosennahrung aus. Es brauche wohl noch gut vier Wochen, bis das alte Vertrauen wieder zurück sei, vermutet Dirk Marx, Präsident des Hamburger Verbands der Schausteller und Marktbeschicker. Möglicherweise war die Warnung vor Tomaten, Gurken und Salat auch zu früh gegeben worden und zu speziell auf Norddeutschland bezogen gewesen. Marx: "Allerdings, wenn ich selbst Verbraucherschutzbehörde wäre, wüsste ich auch nicht, wie ich entschieden hätte." Doch selbst wenn sich jetzt Sprossen immer deutlicher als EHEC-Quelle erweisen und anderes Gemüse vom Verdacht quasi reingewaschen ist, erwartet der Verbandspräsident mögliche Folgeschäden für die Branche. Nicht nur finanziell. Marx: "Ich fürchte, dass nun Erzeuger aus der Region aufhören mit dem Anbau, weil sie so etwas nicht noch einmal erleben möchten, wenn die nächste Krise kommt."

Viele Betriebe, so fürchtet er, würden in Zukunft lieber woanders einkaufen als selbst anbauen. Und frisches Gemüse aus der Region, sagt Dirk Marx, werde dann schwerer zu bekommen sein.