Wie sehen Amerikaner eigentlich St. Pauli? Ein wissenschaftlicher Streifzug durch die USA und ihre Medien. Einige warnen ihre Leser sogar.

St. Pauli. "Seeleute tanzen mit heftig geschminkten 'Animationsladies' und zahlen hohe Preise für schlechten deutschen Champagner", schrieb 1950 ein Journalist des US-Magazins "Time" über Hamburg. Und er berichtete auch, dass man am Bahnhof gegen 25 Mark (damals 5,95 Dollar) in einem Fotoalbum ein Mädchen aussuchen und bestellen konnte. Wer sich anschaut, was amerikanische Reisejournalisten und Autoren von Reiseführern über Hamburg schreiben, wird sich wundern. Auf kurz oder lang endet die Schilderung immer in St. Pauli. Wie über den bekanntesten Stadtteil der Stadt berichtet wird, spiegelt weniger die Realitäten vor Ort als die Sehnsüchte und Ängste der Besucher.

Ebenfalls im "Time Magazine" wurde 1970 mit fast bewunderndem Unterton berichtet, dass es Bordelle gebe, in die der Businessman ungesehen hineinfahre, parke und dann im Kontakthof die Wahl treffe.

Zuletzt finden sich eher sachliche Schilderungen; Frommers, der größte Verlag für Reiseführer, berichtet ganz nüchtern über das Sexgeschäft und vermerkt sogar, dass es eine Hierarchie der Preise für Liebesdienste gebe: Teuer ist es in der Herbertstraße, günstiger in den Nachbarstraßen, die allesamt genannt werden.

Aber die USA sind puritanischer geworden und deshalb wird St. Pauli heute in ein anderes Licht getaucht. "U.S. News Travel" warnt vor der Reeperbahn, einem Korridor - wie es heißt - von Sexshops, Strip-Shows und Bordellen. Gewarnt wird vor Schäbigkeit, Betrunkenen und sogar Straßenkämpfen. Für St. Pauli eher schmeichelhaft ist der Vergleich eines "New York Times"-Autors mit seiner Heimatstadt. "Stell dir eine Nachbarschaft vor, die den Times Square und den Meatpacking District in Manhattan verbindet, etwa in den frühen 90ern, bevor das Musical 'König der Löwen' die Porno-Theater von der 42. Straße verjagte und der Meatpacking District seine Schlachter und Transvestiten gegen Stretchlimousinen und 500-$-Schuhe tauschte." Die Ironie darin, dass ein Stückchen versunkenes New York ausgerechnet auf St. Pauli überleben soll, ist nicht zu übersehen. In einem Artikel, "Hamburgmania", empfiehlt die "Washington Post", auf der Spur der Beatles die Kaschemmen des Quartiers abzuwandern und dabei den Grusel des Ausnahmeviertels zu erfahren. Beide Artikel sind sich darin einig, dass man nächtens bestimmte Straßen meiden müsse oder besser ganz Abstand halte und kein Hotel dort nehme, es gebe doch schöne Quartiere an der Außenalster. St. Pauli erscheint ein wenig wie ein lebendiger Menschenzoo, voller Sünde, Versuchung und Gefahr.

Auch der FC St. Pauli trifft auf Interesse. Das konservative "Wall Street Journal" nennt ihn "das kleine Team von der Reeperbahn, Hamburgs Rotlichtdistrikt" und wittert unter seinen Anhängern "eine Mischung von Linken, Anarchisten und Punks". Auch der "Los Angeles Times" fällt Sex ein: Sie hält es 2011 für berichtenswert, dass in einer Luxussuite während des Spiels gestrippt wurde.

Für den Hamburger Eingeborenen ist St. Pauli vor allem ein Unterhaltungszentrum - Bars, Theater, Restaurants, Diskotheken. Die Prostitution findet statt, aber im Zeitalter von Aids dürfte sie nur noch einen winzigen Teil der boomenden Ökonomie dort ausmachen. Auch die Kriminalität, die fast alle Berichterstatter vermerken, scheint begrenzt zu sein. Wenn man die Gentrifizierung beobachtet, wonach kaufkräftige Interessenten die eher armen Stammbewohner verdrängen, scheint der Stadtteil hoch attraktiv zu sein.

So richtigen Frieden mit St. Pauli schließen eher Zeitungen außerhalb der USA. Die kanadische "Toronto Sun" schreibt nicht nur über das bunte Treiben und erwähnt Beatlemania ("gäbe es kein Hamburg, gäbe es vielleicht keine Beatles"), sie sagt auch etwas anderes. "Es ist eine Sin City, aber richtig gemacht. Der Sexhandel entlang der berüchtigten Reeperbahn ist lizenziert und legal." Und: "Da gibt es eine eingegrenzte und regulierte Zone für Prostitution, mit strikten, von der Polizei durchgesetzten Regeln."

Noch eine ganz andere Geschichte verbindet den Stadtteil mit den USA. Sie rankt sich um das St.-Pauli-Girl. Tatsächlich ist seit Jahren ein St.-Pauli-Bier auf dem Markt, das sich stolz "Imported German Beer" nennt. Es steht auf der Liste der aus Deutschland importierten Biere auf Platz 2, gebraut bei Becks in Bremen. Die Entstehungslegende berichtet sowohl von einem Kloster St. Pauli bei Bremen wie auch von einem Freudenmädchen auf St. Pauli. Mit diesen sich ausschließenden Legenden will man vielleicht die gegensätzliche Klientel in den USA bedienen. Im Kern der St.-Pauli-Werbung steht jedes Jahr ein neues Girl, regelmäßig eine hellblonde und vollbusige Schönheit, die in ein kurzes Dirndl mit ordentlichem Ausschnitt gepackt wird. Die Fachzeitschrift "AdWeek" lästert, da das Bier nichts tauge ("the beer sucks"), müsse man es sexy und im Lederhosen-Stil vermarkten. Das Girl für 2011 ist aus Michigan, heißt Jennifer England und schmückt das millionenfach verbreitete St.-Pauli-Girl-Poster. Sie spendiere das Plakat, so "AdWeek", wahrscheinlich im stickigen Raum eines Studentenwohnheims, dem pickeligen Gewinner eines Online-Gewinnspiels. So konstruieren amerikanische Journalisten und Marketingfirmen ein Bild unserer Stadt, das eine Melange von Hamburgs St. Pauli zwischen Rotlicht und bayerischem Bierzelt zu sein scheint.