Eine Erkenntnis von Simon Wörpel

In Begleitung von Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch stakse ich über zerborstene Plastikbecher und umrunde Pfützen mit unappetitlichem Inhalt auf der Reeperbahn.

Auf mysteriöse Weise bin ich diese Nacht nüchtern geblieben und fange an, es zu bereuen. In dieser ungewohnten Verfassung trete ich im Morgengrauen des Sonnabends den Heimweg vom Kiez an - und gönne mir den skurrilsten Kulturschock, den man auf der Reeperbahn erleben kann.

Wild braust Rostropowitschs Cellospiel in meinen Kopfhörern auf, als uns wieder eine Menschentraube lallend entgegentorkelt. Sanfter wird's - wir befinden uns bereits im zweiten Satz von Dvoráks Cellokonzert in h-Moll -, als die Vögel ob der einsetzenden Morgendämmerung ihr eigenes Konzert darbieten.

Warum bin ich eigentlich hier gelandet? Filmriss gilt nicht, ich bin ja nüchtern. Zu lange bin ich in der Hansestadt, um nicht zu wissen, wohin man geht und wohin nicht. Ritze oder Silbersack, das wär's. Oder am Hafen ins Golem. Da wird jetzt noch vernünftig getanzt. Anders die Große Freiheit. "Karaoke zu Britney Spears?", werde ich angerempelt. Sorry, bin nüchtern. Fragen Sie die Reisegruppe aus Tirol, die gerade den letzten Punkt ihrer Hafen-Michel-Alster-Reeperbahn-Liste abhakt!

Während also mein Freund Rostropowitsch mit den Berliner Philharmonikern zum großen Finale ansetzt, stütze ich einen Tiroler und weise ihm den Weg zur S-Bahn. Lächele freundlich und erinnere mich verständnisvoll, dass ich es einmal auch nicht besser wusste.