Manche halten die Reeperbahn schon für tot und beklagen die “Ballermannisierung“. Doch der Abgesang kommt mal wieder zu früh.

"Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, ob du'n Mädel hast oder hast kein's, amüsierst du dich, denn das findet sich, auf der Reeperbahn, nachts um halb eins" Hans Albers, 1952

Pünktlich pumpt der Partyexpress Nachschub in die Stadt. Zischend öffnen sich die Türen, eine erwartungsfrohe, schon alkoholisierte Meute strömt ins Freie. Gegelte junge Männer, aufgetakelte Mädchen. Gröhlend und stöckelnd streben sie ins fünf Grad kalte St. Pauli. Es ist Sonnabend, auf der Reeperbahn nachts um halb eins.

Im Zehn-Minuten-Takt spucken die S-Bahnen 1 und 3 amüsierwilliges Volk aus. Im flackernden Lichtgeballer des Boulevards versinkt die Partyarmada aus den Vororten im Meer aus Touristen, Konzertgängern, Stadtstreichern, Quartalstrinkern und sonstigen Flaneuren. Neben einem Friedhof aus Tequilagläsern lehnt Mathias Klapdor. Ein bulliger Stuttgarter mit Strohhut und leicht glasigen Augen. Ein Tourist. Kein Zweifel. Der Fußballfan schwäbelt von einer "überragenden Party, friedlichen Stimmung, bunten Vögeln und Bier. Passt schon". Seine daheimgebliebenen Freunde würden ihn um seinen Hamburg-Trip beneiden. Die Reeperbahn, das sei im Ländle die Verheißung. "Aber im Gegensatz zum Ballermann", sagt er, "gibt's hier Trinken mit Niveau."

"Reeperbahn, wenn ich Dich heute so anseh, Kulisse für 'n Film, der nicht mehr läuft. Ich sag Dir, das tut weh." Udo Lindenberg, 1978

Niveau? Für viele Hamburger, zuletzt für Denis Krah, Onlinechef des Reisemagazins "Merian", ist die Reeperbahn nicht mehr als ein Mythos. Sauftourismus sei das Ende vom Ende. Die Reeperbahn werde zum Ballermann des Nordens. Der Generalvorwurf lautet: Das Viertel wird modernisiert, die Mieten steigen, Kreative und alte St. Paulianer ziehen weg, und die Reeperbahn verkommt immer mehr zur Saufstraße. Echte Sehenswürdigkeiten gebe es kaum noch. Und selbst die Kiez-Safari von Drag Queen Olivia Jones sei nicht Lösung, sondern Teil des Problems. Im Prinzip müsse man allen Touristen abraten, die sündige Meile zu betreten. Es gebe nichts zu sehen.

Doch die Meile wird romantisiert wie keine zweite Straße. Größte Schwäche, aber auch geheime Stärke der Reeperbahn. "Sie gilt als Raum der Rechtlosigkeit, der Abweichungen, als Ort der Subkultur und natürlich als deutschlandweit einzigartiges Refugium des Rotlichtmileus", sagt Stadtsoziologe Joachim Häfele. "Es widert und zieht Touristen an."

Deswegen kommen sie. Und deswegen ist die Reeperbahn in der Erinnerung vieler Hamburger ein Biotop für Hafenarbeiter, bizarre Tagelöhner, folkloristische Kneipen, joviale Luden und ehrbare Damen des horizontalen Gewerbes. Sie werde musealisiert, ein verklärtes Bild gezeichnet. Weil 2011 aber kein Seemann mehr über den Trottoir torkelt, niemand Schifferklavier spielt und die Tischtelefone im Café Keese längst abgebaut sind, kommt nostalgische Frustration auf.

Besonders am Wochenende bestimmen stereotype jugendliche Feierbiester das Bild und: Touristen. Für Nicht-Hamburger aus dem In- und Ausland bleibt St. Pauli, bleibt die Reeperbahn das Rotlichtviertel. So wie Amsterdam für Drogentouristen stets das Heilige Land war.

Dagegen ist das Fremdeln vieler Hamburger sowie der befürchtete Ausverkauf nicht neu, wie die lindenbergsche Rockoper beweist. Vor 30 Jahren besang der Panikrocker in seinem "Penny Lane"-Cover den kulturellen Niedergang mitsamt des Verlusts der Livemusik im Star-Club oder im Top Ten. Eineinhalb Jahrzehnte später besang derselbe Lindenberg das Comeback der Bahn: "Du geile Meile, auf die ich kann." Eine neue Szene, neue Klubs, neue Livemusik. St. Pauli ist mehr als die Reeperbahn und hat sich mehr als einmal neu erfunden.

"St. Pauli ist ein Zoo, und seine Bewohner sind die Zootiere. " Olivia Jones, 2011

Die Große Freiheit pulsiert. Heimspiel für Oliver Knöbel, besser bekannt als Olivia Jones. In einem schrillen Lederfummel nimmt die Drag Queen vor ihrer Bar Platz. Zwei Sachsen wollen Fotos. "Ihr seht doch, dass ich gerade mit Freiern rede", ist ihre Replik. Gerade hat Jones 30 Touristen durch St. Pauli geführt. 40 Euro pro Nase, Astra-Knollen und Kurze inklusive. 600 Menschen lotst sie wöchentlich über den Kiez. Hier ist ihr Revier: "Und ich finde die Mischung, wie sie gerade ist, ganz geil. Du kannst dich auf der Reeperbahn ballermannmäßig mit einem Eimer in der Hand besaufen, stilvoll mit Champagner abfeiern und dich nach wie vor von Prostituierten aus der Ukraine ausnehmen lassen." Der Kiez habe sich entwickelt. Sie versuche, mit ihren Touren das alte St. Pauli zwischen dem neuen zu zeigen: Davidwache, St.-Pauli-Museum, Herbertstraße, Silbersack und Ritze gehören dazu, Hans-Albers- und Beatles-Platz ebenso. "Klar ist es kommerziell. Aber das war es schon immer. Die Meile ist für Touristen gebaut. Denn für Touristen ist St. Pauli ein Zoo, und seine Bewohner sind die Zootiere", sagt Jones. Das sei nicht schlimm, aber: "Die Tiere und der Zoo müssen beschützt werden." Mehr Eigentumswohnungen, höhere Mieten, mehr Schickimicki und Supermärkte hätten nichts auf der Meile verloren. Sie selbst wohnt zwar auch in einer Eigentumswohnung, "aber ich bin auch Bürgermeisterin von St. Pauli".

"Da hinten ist die Reeperbahn, und die kennt ihr doch aus dem Fernsehen. Ihr könnt mir glauben, dass die Leute euch da drüben gern sehen." AussenBorder, 2001

An der Esso-Tankstelle auf dem Kiez herrscht Hochbetrieb. Spötter behaupten, sie sei die einzige Attraktion, die der Reeperbahn geblieben sei. Für Gerhard Vlach, 71, ist sie gewohntes Bild. Seit 17 Jahren wohnt er in einer kleinen, günstigen Wohnung direkt gegenüber in der Kastanienallee. Das Wochenendgejohle störe ihn nicht. Sein Verhältnis zur Reeperbahn ist ohnehin differenziert: "Ein St. Paulianer geht nicht auf die Meile. Das überlasse ich den Touristen." Aber selbstverständlich habe er den Wandel registriert. Ein notwendiger Prozess, wie er meint: "Der erste Knick kam ja in den 60er- und 70er-Jahren mit der Modernisierung des Hafens." Seeleute blieben aus, "die Nutten machten kaum noch Geschäfte". In den Achtzigern sei dann die Aids-Welle nach Europa geschwappt.

"Na klar, die alten Koberer schreien sich auch heute noch die Kehlen heiser. Aber die Musicals, das Operettenhaus, die Supermärkte, der neue Spielbudenplatz und zuletzt die frei verfügbare Pornografie im Internet - das alles hat die Meile verändert", sagt der gelernte Klempner. Als Ballermannisierung könne man begreifen, "dass heute viel mehr draußen gesoffen wird. Früher kehrte man ein, heute wird vor der Tür vorgeglüht." Aber mit Schmidt/Schmidts Tivoli, dem St.-Pauli-Theater und dem St.-Pauli-Museum sei man "weit entfernt vom Ballermann". Restkultur werde immer bleiben.

"Ich bin so breit, ich seh nur das Blaulicht. Der Bulle redet irgendwas, ich sag, ich weiß auch nicht." Reeperbahn Kareem, 2009

Junggesellen und ihre Entourage schwanken durch Lachen, deren Herkunft man gar nicht kennen möchte. Blaulicht, Geschrei, Gelächter - der Sonnabendabend ist zum Sonntagmorgen geworden. Seit zwei Jahren herrscht striktes Glasflaschen- und Waffenverbot auf dem Kiez. Zumindest Delikte mit Glasscherben sind um fast ein Viertel zurückgegangen. Müll und Ärger gibt's trotzdem an jeder Ecke.

Die Touristen stört's nicht. Gabi Harms aus Wolfsburg etwa arbeitet sonst bei VW in der Produktion. Mit zehn Freundinnen ist sie für 24 Stunden nach Hamburg gekommen. Michel, Alster, Elbe - das Pflichtprogramm liegt hinter ihnen. "Aber richtig gefreut haben wir uns auf heute Abend, auf die Reeperbahn." Gabi ist 53 und schon angeschwipst. "Ich bin total begeistert von der Party", sagt sie und ergänzt: "Ist mal was anderes. Spannend."

"The memories are short but the tales are long, when you're in the Reeperbahn" Tom Waits, 2002

Die Legendenbildung gerät aus dem Ruder. Wer die Reeperbahn als alkoholgetränkte Ballermannkopie begreifen möchte, findet durchaus Gründe. Getrunken wird wochenends ohne Unterlass, ohne Reue und vor allem draußen, vor allem von der hyperventilierenden Jugend. "Mit einem Ballermann-Stigma wäre ich jedenfalls vorsichtig", sagt Stadtsoziologe Joachim Häfele. Gerade in der Woche gebe es ein kulturelles Leben rechts und links der Reeperbahn, das Studierende und Intellektuelle nutzen würden. Hamburger mieden die Reeperbahn am Wochenende, seien in der Woche aber dankbar für die Kicker- und Kneipenkultur.

Ein Teil davon ist der Silbersack. Die Wände vergilbt, das Licht zu hell, das Mobiliar ranzig, auf jedem Tisch eine Tulpe - in diesem bizarren Arrangement kippen selbst am Wochenende nur unprätentiöse Hamburg-Gesichter ihr Astra, füllen emsig die Aschenbecher. Aufgetakelte Jugendliche? Fehlanzeige. Man mag beklagen, dass hier - genau wie in der Ritze - die Touristenströme durchgeführt werden wie durch eine Ausstellung. Aber letztlich ist es auch eine Ehrerweisung für Ritze und Silbersack, die noch leben. Ebenso die stadtbekannten Absturzkneipen wie der Goldene Handschuh oder der Clochard (mit charmant schäbigem Balkon). Das ist St. Pauli und Reeperbahn der alten Schule.

"Hamburg - nicht verwechseln mit Hans Wurst, denn selbst der kleinste Pimmel hier ist nicht ganz kurz. Also scheiß auf Tief Anna, Tief Berta, Tief Lora, dafür ham wir Musik, ham den Kiez, ham die Flora" Absolute Beginner, 2003

Videoüberwacht, streng kontrolliert, Tourismusattraktion: Vielleicht müssen Hamburger die Reeperbahn 2011 nicht lieben. Die Leute, die dort leben, tun es, obwohl es einem die Straße nicht einfach macht. Aber ein Abgesang ist laut Stadtsoziologe Häfele verfrüht bis unpassend. Nur wer mit einer antiquierten Erwartungshaltung auf den Kiez geht, geißelt den vermeintlichen Sittenverfall. Der wird sich wundern über die zum Inventar gehörenden Punks vorm McDonald's ("Wenn du mir einen Burger mitbringst, gibt's auch keine Schramme am Auto.") Und der wird nörgeln über den seit jeher rauen Charme und die skurrilen bis verrückten Gestalten, die einem manchmal vor die Füße spucken.

Alle anderen könnten die Straße - und auch ihr Umfeld - aber auch als das sehen, was Hans Albers bereits in den 50er-Jahren besungen hat: eine Amüsiermeile, in der sich lediglich die Art der Unterhaltung geändert hat. Und im Gegenzug gibt es den anderen Kiez, rund um die Wohlwillstraße etwa, mit alten Strukturen, Zusammenhalt, Miteinander, Subkultur. "Dort wird das St.-Pauli-Ideal gelebt", sagt Häfele.

Sich die abgeschminkte Reeperbahn anzusehen, war, ist und wird wohl indes kein Vergnügen mehr werden. Bei Tageslicht ist das verwirkte Antlitz trostlos. Doch für die Realität ist die Reeperbahn nicht gemacht. Sie ist ein Kind der Nacht. Und wird es bleiben.