Zum Tode von Günter Stiller, der Reporter-Legende von Axel Springer, dem Botschafter des Abendblatts

"Gehen Sie behutsam mit dem Wort Legende um. Sparen Sie sich Wörter auf für die Gelegenheiten, bei denen sie wirklich angebracht sind. Das ist die Kunst unseres Berufes." Günter Stiller sagte das vor vielen Jahren einem jungen Kollegen beim Abendblatt. Als Mahnung, sehr wohl die Wahrheit der Story herauszufinden, sie zu beschreiben, dabei aber nicht zu übertreiben. Nicht jeder, der von sich reden macht, ist gleich eine Legende.

In diesem Fall ist das Wort keine Übertreibung. Günter Stiller war eine Legende, eine Reporter-Legende. Der langjährige Chefreporter und stellvertretende Chefredakteur der Bild-Gruppe und ab Mai 1983 Chefreporter des Hamburger Abendblatts, ist kurz vor seinem 80. Geburtstag in der Hansestadt gestorben.

Als er 1956 in das Verlagshaus Axel Springer eintrat, begannen bald turbulente Jahre. Günter Stiller war nicht nur dabei, er war mittendrin. Er berichtete über die Kriege in Vietnam und Nahost, über politische Krisen, aber auch über Luft- und Raumfahrtthemen, Bundeswehr und Nato, über aufsehenerregende Prozesse, Filmstars und königliche wie fürstliche Hochzeiten. "Und andere Katastrophen", wie der Kriegs- und Friedensreporter süffisant anmerkte.

Er hatte den Zugang zu den Großen, zur Geschichte, und auch zu denen, die Geschichtchen schrieben. Er verfasste viele Beiträge für die Abendblatt-Kolumne "Tischgespräch", bei der er mit Prominenten der A-Klasse plauderte. Das konsularische Korps in Hamburg lud ihn immer wieder zu Hintergrundgesprächen ein. Die Diplomaten, und nicht nur sie, konnten sich auf sein Wort verlassen. Günter Stiller war auf dem Parkett der Hansestadt der Botschafter des Abendblatts. Er beherrschte den Dresscode der Gesellschaft.

Das galt auch, wenn er raus musste. "Günter, das ist ein Fall für dich", sagte der Chefredakteur, als er ihn bat (man befahl ihm nicht), noch am Abend jenes 29. Mai 1985 nach Brüssel zu fahren, wo vor dem Europapokalfinale Juventus Turin gegen FC Liverpool Krawalle im Heysel-Stadion in einer Massenpanik endeten. 39 Menschen kamen ums Leben. Günter Stiller sammelte im Stadion Spuren, die die Gewalt hinterlassen hatte, verlorene Ausweise und machte sich dann erst auf die Suche nach Opfern, während andere Reporter das Krankenhaus belagerten, um an Informationen zu kommen. "Der Günter" hatte sie schon.

"Günter" sagte nur der Chef zu ihm. Die Kollegen nannten den Vornamen mit Respekt nur dann, wenn er nicht in Hörweite war. Ansonsten war er der "Herr Stiller". Seine badische Herkunft konnte der stets hektikfreie Journalist auch nach Jahrzehnten in Hamburg nicht leugnen. "Schtilla" sagte er am Telefon, wenn er seinen Namen nannte. Als er einmal bei der Marine anrief, ahnte man das Strammstehen am anderen Ende der Leitung. Der ruhige Herr Stiller konnte aber auch laut werden, wenn er das Gefühl hatte, ein Pressesprecher wollte ihm Informationen vorenthalten oder eine Sache herunterspielen. Der gewiefte Reporter wusste es doch längst besser.

Als der "Stern" die sogenannten Hitler-Tagebücher herausbrachte, schüttelte Stiller den Kopf. "Kann nicht stimmen", sagte er. "Das ist eine Fälschung." Später traf er den Tagebuch-Schreiber Konrad Kujau. Der Meisterfälscher schrieb ihm Autogramme von führenden Nazis - täuschend echt - auf ein Stück Papier. Nur so aus Spaß. Als Erinnerung an die Begegnung.

Stiller kannte alle Facetten des Berufs. Die Schrecken des Vietnamkrieges hat er viermal hautnah erlebt, so 1970 in Da Nang, als er mit einer amerikanischen Hubschrauberbesatzung zu einem "Himmelfahrtskommando" startete, dessen Chancen man ihm mit "20:80 gegen uns" dargestellt hatte. Es ging um die Bergung eines nordvietnamesischen Divisionskommandeurs, der schwer verwundet von einer umzingelten US-Einheit gefangen genommen worden war und nun operiert und verhört werden sollte. Die Crew hatte Glück und kehrte mit dem Nordvietnamesen (dem höchsten Offizier, der den Amerikanern in Vietnam in die Hände fiel) auf den Stützpunkt zurück. Beim Zusammenbruch Südvietnams 1975 gelang es Stiller, kurz vor der Einnahme der Hauptstadt Saigon durch die Kommunisten zu entkommen. Sein Urteil über den Vietnamkrieg war kurz und bündig: "Dieser Krieg war falsch und böse." Günter Stiller berichtete, auch von Israels Sechs-Tage-Krieg 1967, nicht aus einem Pressezentrum, sondern von der Front. Er schrieb auf, was er erlebte und erfragte, und nicht das, was andere nur kolportierten. Das machte seine Reportagen so eindrucksvoll und authentisch.

Die Fliegerei war seine Leidenschaft. Stiller flog als erster Journalist überhaupt im Tornado der Bundeswehr. Und selbstverständlich war seine Aktentasche, die er in die Redaktion trug, ein lederner Pilotenkoffer mit Aufklebern, die davon zeugten, wo er zu Hause war - draußen in der Welt. Er reiste durch die Weltgeschichte, um sie aufzuschreiben. Und wenn er am Schreibtisch in der Redaktion saß, zwischen all den Stapeln von Zeitungen und Büchern, vermittelte er das Gefühl, dass er lieber unterwegs wäre.

Günter Stiller hatte in seiner langen Karriere hinreichend Gelegenheit, sich mit Politikern anzulegen, und eine der Schlussfolgerungen, die er daraus zog, fasste er in dem Satz zusammen: "Leichtgläubig sollte der Reporter nicht sein. Bekanntlich ist die Wahrheit so kostbar, dass sie mit einer Leibwache von Lügen umstellt werden muss."

Als Nato- und Militärkorrespondent in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn hatte Stiller mehrfach Anlass, sein Verhältnis zum früheren Verteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD) zu bilanzieren. Führende Militärs der Bundeswehr zogen es zuweilen vor, den Journalisten Stiller mit kritischen Fragen an den Minister auszustatten, statt sich selbst dem robusten und zuweilen auch polternden Umgangston ihres Dienstherrn auszusetzen. Helmut Schmidt durchschaute das allerdings, und so ließ Stiller eines Tages einen ministeriellen Wutausbruch über sich ergehen, bei dem Schmidt in seinem Dienstzimmer auf der Hardthöhe mit der Faust auf den Tisch schlug und zornig ausrief: "Diese Fragen haben Ihnen doch wieder diese verdammten Generale gesteckt!" Dass darin eine, wenn auch herb verpackte Bekundung von Sympathie und Respekt lag, wurde Stiller erst später klar.

Jedenfalls entwickelte sich das Verhältnis zu Helmut Schmidt und bald auch zu Ehefrau Loki so, dass Günter Stiller auch privater Gast des Ehepaares war und beider Vertrauen besaß.

Seine Arbeitsweise passte eigentlich nicht zu der einer Zeitungsredaktion, wie man sie sich vorstellt. Nie hat man ihn tippend an einer Schreibmaschine gesehen. Nie hat man überhaupt eine Schreibmaschine bei ihm gesehen. Was Günter Stiller brauchte, waren Papier, ein Kugelschreiber, ein Telefon. Und sein persönliches Telefonbuch mit den geheimsten Nummern. Er hatte keinen Laptop, er hatte ein "Notebook", das seine Handschrift trug. Texte schrieb er vor und diktierte sie einer Sekretärin. Meist auf Zeile, also passgenau für die gewünschte Länge. "Und wenn man nicht drei gute Überschriften darübersetzen kann, dann ist es ein schlechter Text", sagte er einmal.

Bis zuletzt schrieb er für das Abendblatt. "Schtilla, guten Tag." Wir werden diesen Satz aus seinem Mund nicht mehr hören. Das macht uns traurig. Aber wir behalten die Erinnerung an eine wirkliche Legende, unsere Reporter-Legende.