Günter Stiller war im Vietnamkrieg dabei. Hier sein erster Bericht aus Saigon - erschienen in “Bild am Sonntag“

Saigon, 30. März 1975. Südvietnam, auf dessen berühmt-berüchtigter "freudloser Straße" an der Küste über eine Million Flüchtlinge um das Überleben kämpfen, ist an der vorletzten Station seines freudlosen Weges angelangt. Diese Station heißt Verzweiflung, Grauen, Sterben. In Saigon, wo die Lichter der Bars und Nightclubs ausgehen, geht die "große Angst" um, die Frage: Was kommt?

Die geplante große Luftbrücke ist nicht in Gang gekommen

Schlägt der Vietkong, der angeblich 5000 ausgebildete Terroristen in dieser "Stadt in Angst" hat, wieder zu wie am Tet-Fest 1968?

Treten die drei nordvietnamesischen Elite-Divisionen, die bei Tay Ninh und An Loc stehen, hundert Kilometer nordwestlich der Hauptstadt an der kambodschanischen Grenze, zum Großangriff auf den Raum Saigon an?

"Wir sind auf das Schlimmste, das Allerschlimmste vorbereitet", antwortet ein hoher Offizier heute morgen stereotyp auf all diese Fragen.

Saigon, wo die herzzerreißend schönen Mädchen in tiefer Gelassenheit - den Abglanz uralter asiatischer Weisheit in den nachtschwarzen Augen - über die Boulevards paradieren, ist ein Pulverfaß, unter dem bereits die Lunte brennt. Nachts liegt die Stadt in grenzenloser Einsamkeit da, während Scheinwerfer den Himmel ertasten und sich nach der unglücklichen Hafenstadt Da Nang richten.

Die geplante große Luftbrücke ist nicht in Gang gekommen, die Schiffe der südvietnamesischen Marine sind nur ein paar Nußschalen im Meer der Verzweiflung.

Während auf den Fluchtrouten nach Da Nang und Tu Hoa die von den Nordvietnamesen zusammengeschossenen und verhungerten Menschen sich zu Bergen häufen, während der US-Kongreß unbeeindruckt der Flucht der vor den Kommunisten fliehenden Südvietnamesen zuschaut, versuchen in Saigon die Geschäftemacher sich abzusetzen.

Die Flüge nach Bangkok sind ausgebucht. Zahlreiche Diplomaten stellten bereits Anträge, Frauen, Kinder und Möbel abtransportieren zu können. Die Anträge wurden bisher jedoch durchweg abgelehnt. "Die Vietnamesen beobachten uns mit Argusaugen", sagte uns ein hoher westlicher Diplomat. "Wenn wir unsere Angehörigen wegschaffen, bricht hier die Panik aus."

Zur gleichen Stunde hielt der Vietkong im Saigoner Flughafen eine offizielle Pressekonferenz ab. Das unselige Pariser Vietnam-Abkommen Henry Kissingers macht es möglich!

Man muß es sich vorstellen: In Saigon erklären die Kommunisten, "unsere Aktionen sollen die Einhaltung des Pariser Abkommens erzwingen - aber sie dienen auch der Bestrafung der Südvietnamesen, die diesen Vertrag dauernd verletzen".

Die Pressevertreter hörten schweigend zu. In Vietnam gibt es Tote in Unmengen, Angst, Leid und Schmerzen. Die Wahrheit ist längst ausgestorben.