Die Anklage wirft den Eltern vor, ihren Sohn misshandelt zu haben. Er ist stark zurückgeblieben. Am Dienstag beginnt der Prozess in Hamburg.

Neustadt. Ein erschütternder Fall von Kindesvernachlässigung wird in der kommenden Woche vor dem Hamburger Amtsgericht verhandelt. Wie erst jetzt bekannt wurde, haben Hamburger Behörden im August 2008 einen damals knapp sechs Jahre alten Jungen in Obhut genommen, der körperlich und geistig so verwahrlost war, dass Betreuer zunächst dachten, er sei geistig schwer behindert. Eine Behinderung lag jedoch nicht vor. Die Eltern müssen sich wegen Verletzung der Fürsorgepflicht verantworten. "Eine altersentsprechende Grobmotorik war nicht vorhanden. Die komplexe Entwicklungsstörung war derart ausgeprägt, dass sie zunächst als geistige Behinderung erschien", heißt es in der Anklage. Nach Abendblatt-Informationen hat der Junge vor seiner Inobhutnahme durch das Jugendamt auch immer wieder schwer traumatisierende Erfahrungen machen müssen. Die Mutter soll laut Ermittlern immer wieder vor den Augen des Kindes der Prostitution nachgegangen sein.

Oft habe es auch schwere Gewalt zwischen dem deutschen Vater und der aus Kolumbien stammenden Mutter gegeben, die der Junge habe mit ansehen müssen. Seit August 2008 wird das Kind, das in städtischer Obhut ist, therapiert. Dies ist vermutlich auch der Grund dafür, dass die Eltern erst jetzt, fast drei Jahre nach der Trennung von Eltern und Kind, vor Gericht stehen. Möglich erscheint, dass der Junge die Erinnerungen aus der Vergangenheit erst nach langwierigen Therapiesitzungen preisgegeben hat.

Wie das Leid des Jungen entdeckt wurde, ist bislang nicht bekannt. In Hamburg war nach dem Tod des Jenfelder Mädchens Jessica im Jahr 2005 eine intensive Diskussion über die Qualität der Kindesbetreuung und der Kontrolle möglicherweise erziehungsunfähiger Familien entbrannt. Jessica wurde sieben Jahre alt. Sie wurde von den Eltern wie ein Tier gehalten. Der Senat schnürte ein umfangreiches Maßnahmenpaket, machte unter anderem ärztliche Vorsorge-Untersuchungen zur Pflicht. 2009 starb erneut ein vernachlässigtes Kind: Lara-Mia aus Wilhelmsburg wurde neun Monate alt.