Jede vierte Frau in Deutschland wird von ihrem Lebenspartner misshandelt. Die 21-jährige Hamburgerin Katrin T. ist eine von diesen Frauen.

Hamburg. Er hat keine Chance. Niklas sieht alles. Wie der Papa die Mama packt. Sie schüttelt. Wie sich seine Finger in ihre Arme krallen. Und er zutritt. Er sieht, wie seine Mutter zusammenbricht. Wimmernd davonkriecht. Der sechs Monate alte Junge versteht nicht, was los ist. Aber er fühlt, dass etwas nicht stimmt. Er riecht die Angst, die in der Luft liegt. Niklas reißt die Arme hoch und schreit. Da schlägt der Vater zu.

Katrin T. ist 21 Jahre alt. Sie ist eine Frau aus Hamburg, die ihren wirklichen Namen nicht nennen möchte. Sie ist die Mutter von Niklas, der heute zwei Jahre alt ist. Jeden Morgen um acht verlässt sie die Wohnung. Sie will Bürokauffrau werden und ein ganz normales Leben führen. Das hat sie sich fest vorgenommen. Sie will eine sein von vielen.

Sie ist eine von vielen. Katrin T. ist Opfer häuslicher Gewalt. So wie jede vierte Frau in Deutschland. Sie könnte Ihre Nachbarin sein. Die Frau von nebenan. Die erzählt, dass sie gegen einen Schrank gerannt ist, wenn das Auge geschwollen, die Stirn zerschrammt ist.

Das Thema Gewalt in der Familie ist ein Tabu. Es wird verschwiegen, verdrängt, verleugnet. Dabei kommt es vor, in allen gesellschaftlichen Schichten - auch in den besseren Kreisen. So wie bei Gymnasiallehrer Thomas Schäfer und seiner Frau Viola. Sie haben zwei Kinder und bewohnen ein schmuckes Reihenhäuschen am Stadtrand. Alles scheint in bester Ordnung. Doch Thomas steht unter Druck. Er fürchtet, den Erwartungen nicht gerecht zu werden, wird reizbar und aggressiv. Die Schuld gibt er vor allem seiner Frau. Wenn er sie schlägt, fühlt er sich erleichtert. Auch der gemeinsame Sohn Sven wird sein Opfer. Viola versucht die Spuren seiner Taten zu verbergen. Aus Scham.

Die Geschichte der Familie Schäfer ist nur inszeniert. Gestern Abend war sie im ARD-Spielfilm "Kehrtwende" zu sehen. Die Realität sieht genauso aus: Zwei von fünf Frauen im Alter zwischen 16 und 85 Jahren haben in ihrem Leben schon körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. In den meisten Fällen ist der Täter der Ehemann oder der Lebensgefährte. Das hat eine Studie des Bundesfamilienministeriums ergeben. "Keine andere Form von Gewalt wird so stark ignoriert und totgeschwiegen wie die Brutalität in Beziehungen", sagt Cornelia Tietze, Beraterin bei pro-aktiv Hamburg, der Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt und Stalking. 1200 Betroffene, davon 90 Prozent Frauen, hat die Beratungsstelle im vergangenen Jahr betreut. Die meisten von ihnen sind zwischen 20 und 39 Jahren alt. Frauen mit Prellungen, Schnittverletzungen im Gesicht, mit Verbrennungen und Hämatomen. Menschen, die schwer getroffen sind von ihrem Partner.

Katrin T. ist eine von ihnen. Sie lernt ihren Ex-Freund Mark in einer Disco kennen. Ein kräftiger Kerl, 1,95 Meter groß. Die beiden verlieben sich. Sie verbringen jede freie Minute miteinander, gehen ins Kino, auf den Dom. Auf den Geburtstagsfeiern ihrer Freunde sind sie das Traumpaar. Sie, das fröhliche Mädchen mit den langen, dunklen Haaren. Und er, der starke Kerl, an dessen Schultern man sich so gut anlehnen kann. "Er hatte einen guten Charakter", sagt Katrin. "Das dachte ich jedenfalls."

Die junge Frau wird schwanger. Das Paar freut sich auf das Kind. Im Juli 2008 wird Niklas geboren. Das Baby soll es gut haben. Katrin hat sich viel für ihren Sohn vorgenommen. Auch weil sie selbst eine schwierige Kindheit hatte, bei Pflegeeltern aufgewachsen ist, vom Onkel vergewaltigt wurde. "Für mich war klar, mein Sohn steht an erster Stelle", sagt sie. Ihr Partner reagiert eifersüchtig. Er kann und will Katrin nicht teilen. "Erst hat er mich nur angeschrien", sagt sie. Dann schlägt er zu. Erst einmal, dann immer wieder.

Cornelia Tietze kennt viele Frauen wie Katrin. Die Pädagogin und Kriminologin hilft den Opfern, gibt ihnen die Möglichkeit, wieder Sicherheit zu gewinnen. Manchmal geht das nicht ohne eine Strafanzeige. Manchmal geht das nicht ohne Beweise. Beweise, dass die Gewalt vom Partner und nicht von der Schranktür kommt. An sieben Tagen die Woche, rund um die Uhr können sich Betroffene an die Rechtsmedizinische Untersuchungsstelle des UKE wenden. Ihre Leiterin ist Dr. Dragana Seifert. 1300 Opfer von Gewalt untersucht sie jedes Jahr. 500 von ihnen werden von ihrem Lebensgefährten verletzt. Die Untersuchung ist kostenlos, das Ergebnis gerichtsverwertbar. "Viele Gewaltopfer suchen erst sehr spät Hilfe", sagt die Ärztin. "Die Hemmschwelle, darüber zu sprechen, ist gerade in den besseren Kreisen hoch." Um das zu ändern, hat die Medizinerin gemeinsam mit erfahrenen Kollegen im Verbund der Ärztekammer Hamburg den Leitfaden "Häusliche Gewalt" entwickelt, der Hinweise zur Diagnostik, zur Dokumentation der Verletzungen und zum Hilfesystem bietet. Für dieses Jahr ist außerdem eine Fachtagung zum Thema geplant. "Wir wollen Ärzte für das Thema sensibilisieren", sagt Seifert. Denn sie seien meistens die Ersten, die mit den Opfern in Kontakt kämen.

Auch Katrin T. landet schließlich im Krankenhaus. Nach einem heftigen Streit tritt ihr der Partner so stark in den Bauch, dass der Magen reißt. Sie wird operiert. Der gemeinsame Sohn bleibt beim Vater. Als sie aus der Klinik entlassen wird, weiß sie, dass es kein Zurück mehr gibt. Sie flüchtet mit Sohn Niklas ins Frauenhaus, so wie es bundesweit jährlich circa 45 000 Frauen mit ihren Kindern tun. In Hamburg waren es 853 Frauen und 655 Kinder im Jahr 2009. Sie bleiben ein paar Wochen. So lange, bis sie eine Wohnung gefunden haben und die Kraft, sich von dem Partner zu trennen.

Katrin T. erstattet Strafanzeige gegen ihren Ex-Freund. Sie hat Angst. Immer wieder bekommt sie Nachrichten von Marc. Er droht ihr, das Kind zu vergiften, um sie zu zerstören. Weil sie als Eltern das gemeinsame Sorgerecht haben, darf der Vater seinen Sohn dennoch sehen. Das Kind reagiert mit Asthmaanfällen. Es droht förmlich zu ersticken.

Das Gericht spricht ein Näherungsverbot aus. Wenn Marc sich ihr oder dem Kind auf weniger als 100 Meter nähert, macht er sich strafbar. Um die Opfer zu schützen, kann die Polizei unmittelbar nach einer Tat eine sogenannte Wegweisung erteilen. "Derjenige, der schlägt, muss die gemeinsame Wohnung für zehn Tage verlassen", sagt Peter Franz von der Zentralstelle polizeilicher Opferschutz. 591 Wegweisungen waren es im vergangenen Jahr. Darüber hinaus hat der schwarz-grüne Senat im Dezember den Zweiten Landesaktionsplan Opferschutz verabschiedet.

Er sieht unter anderem vor, bei der Staatsanwaltschaft Sonderdezernate für Verfahren im Zusammenhang mit Beziehungsgewalt einzurichten. Darüber hinaus fördert die Sozialbehörde im Stadtteil Steilshoop das Pilotprojekt "Steilshoop ohne Partnergewalt". Es geht darum, eine Kultur des Hinschauens zu entwickeln, damit möglichst viele Stadtteilbewohner helfen können. Das Projekt wird mit 18 000 Euro gefördert. Insgesamt liegen die Ausgaben der Behörde für Opfer von häuslicher Gewalt 2011 bei 3,7 Millionen Euro. Von dem Geld werden auch Maßnahmen für Kinder finanziert. "Denn fast alle Kinder, in deren Familie Gewalt herrscht, wissen davon. 77 von 100 haben selbst Gewalt erfahren", sagt Diplom-Pädagogin Ulrike Kreyssig.

Allein im UKE untersucht Rechtsmedizinerin Dragana Seifert jedes Jahr 250 betroffene Kinder. "Die Dunkelziffer", sagt sie, "ist noch viel höher." Auch Katrin T. gehörte als Kind zu dieser Dunkelziffer. Keiner hat sie vor Gewalt geschützt. Jetzt muss sie lernen, sich selbst zu schützen. Und ihren Sohn. Ihr Wohnort ist geheim. Ihre wahre Identität kennen nur Freunde. Sie fühlt sich damit sicher. Letzte Woche ist sie ihrem Ex-Freund in der S-Bahn begegnet. Er hat sie gesehen. Und zugeschlagen.