50.000 Menschen aus dem ganzen Norden demonstrierten in Hamburg für den Atomausstieg - der Andrang hat sogar die Veranstalter überrascht.

Hamburg. Um 13.35 Uhr verkündet der Robin-Wood-Atomexperte Dirk Seifert auf der Bühne vor dem Hamburger Rathaus, es sei immer noch kein Ende des Protestzugs von der Moorweide zum Rathausmarkt in Sicht. Da reißt Erika Meißner, 60, die Arme in die Luft: "Ist das nicht toll?", ruft sie. "Ich kann es gar nicht glauben, dass so viele Menschen auf die Straße gegangen sind!" Auch andere um sie herum beginnen zu jubeln, klatschen in die Hände, tanzen. Einige recken das Gesicht gen Sonne und schließen für einen Moment glückselig die Augen. So als hätten sie eben erfahren, dass ihr Lieblingsklub ein entscheidendes Match gewonnen hat. Zigtausende haben plötzlich das Gefühl, gewonnen zu haben. Und dann skandieren sie - wie so oft an diesem Tag laut und im Einklang - ihre Botschaft an die Bundesregierung und an die Betreiber der 17 Atomkraftwerke im Lande: "Ab-schal-ten! Ab-schal-ten!"

Allein in Hamburg demonstrieren am Sonnabend laut Polizei 40 000 Menschen für den Ausstieg aus der Atomenergie, laut Veranstaltern 50 000. Eine Demonstration in dieser Größe hat die Hamburger Innenstadt lange nicht gesehen. Die Teilnehmer kommen aus dem ganzen Norden, zum Beispiel mit der Bahn aus Kiel, Lübeck und Lüneburg. Ab 12 Uhr mittags bewegt sich der Zug von der Moorweide am Dammtor über Esplanade und Lombardsbrücke, vorbei am Hauptbahnhof und dem Kundenzentrum des Energiekonzerns Vattenfall in der Mönckebergstraße zur Abschlusskundgebung vor dem Rathaus.

Dabei lassen sich die Teilnehmer keiner "typischen" Szene zuordnen. Viele junge Familien mit Kindern sind dabei, Teenies, Studenten, Mittvierziger und -fünfziger, Rentner. Sie kommen mit Buttons an den Jacken, Stickern auf den Wangen, Luftballons, Fahnen, selbst gemalten Plakaten. Darauf gedruckt, gemalt: die rote lachende Sonne, das Symbol der Anti-Atom-Bewegung, darunter das schlichte "Nein danke" und Aufforderungen zum Ausstieg aus der Atomenergie. Die Familie Dufils - Vater, Mutter, Kleinkind - ist aus Kassel angereist: "Wir brauchen die Kernkraft nicht", sagt Vater Olivier. Aus Kiel kommt Detlev Ganzel, 57, der seit 35 Jahren gegen Atomkraft demonstriert. Schon Tschernobyl habe gezeigt, dass der Mensch die Atomkraft nicht beherrscht. Was in Fukushima passiere, bestätige ihn in seiner Argumentation, "ohne dass ich mich darüber freuen kann", sagt Ganzel.

Lisa Walther, 19, und Svantje Matuszak, 16, kommen aus Bargteheide. "Es ist schlimm, dass erst eine Katastrophe passieren musste, bevor die Menschen sich wehren", sagt Svantje. "Dabei geht es locker ohne Atomkraftwerke", meint Lisa. "Man muss nur das Geld richtig einsetzen, nämlich in die Entwicklung erneuerbarer Energien."

Waltraud Eilers, 50, aus Zarrentin hat "schon in Brokdorf Prügel kassiert. Das hält mich nicht davon ab, meine Meinung zu sagen. 25 Jahre nach Tschernobyl erfahren wir wieder, wie gefährlich diese Technologie ist und wie gleichgültig dieser Gefahr begegnet wird", sagt sie.

Ähnlich geht es Erika Meißner und Ehemann Klaus, 65. Das Ehepaar aus Rahlstedt nimmt zum ersten Mal an einer Großdemonstration teil, "damit endlich was passiert und die Politiker nicht immer nur reden. Vor 30 Jahren hat man uns erzählt, die Asse sei als Endlager für radioaktiven Müll 1000 Jahre sicher. Heute erzählt man uns, die deutschen Atomkraftwerke seien sicher", sagt Klaus Meißner. Seine Frau fügt hinzu. "Uns geht es nicht um uns. Es geht uns um die Zukunft der Erde."

Um 14.15 Uhr bittet Propst Jürgen F. Bollmann von der Nordelbischen Kirche die Demonstranten auf dem Rathausmarkt um eine Schweigeminute für die Opfer in Japan. "Wir müssen erkennen, dass unsere Hilfe für Japan nur eingeschränkt möglich ist", sagt er. "Dies anzuerkennen ist Ausdruck unseres Respekts den Opfern gegenüber und Ausdruck einer Demut, die unsere eigene Machtlosigkeit sieht, die Not von ihnen nicht abwenden zu können."

60 Sekunden lang herrscht Stille. Vor der Bühne ist nur das Klicken der vielen Kameras zu hören, mit denen die Fotografen den Moment festhalten. "Wir werden einen langen Atem brauchen", sagt der Propst. Seine Forderung: Ausstieg "hier und jetzt".

Der Termin der nächsten Großdemos steht schon fest: Ostermontag - direkt an den Atomkraftwerken.