Die Causa Guttenberg zeigt dem Verfall der Tugenden.

Den 68ern wirft man in bürgerlichen Salons, Talkshows oder Bestsellern ja gern und vieles vor: Sie hätten das Wertefundament der Gesellschaft unterminiert, die Familie zerstört und dem Egoismus Bahn gebrochen. Viele dieser Urteile sind maßlos und eindimensional, und doch haben sie einen wahren Kern. Tugenden etwa gelten heute als alter Zopf. Wie sagte Oskar Lafontaine 1982 so entlarvend: "Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben."

Heute muss man nicht mehr gegen Tugenden pöbeln, sie sind offenbar entbehrlich. Und es sind nicht die bösen 68er, es waren zuletzt vor allem die Vertreter bürgerlicher Parteien, die fundamentale Tugenden ausgeblendet haben. Es ist grotesk, wie die Union mit der abgekupferten Promotion ihres einstigen Stars Karl-Theodor zu Guttenberg umgeht. Weil der CSU-Politiker für die Union ein Aushängeschild ist, werden Werte relativiert und Tugenden verbogen; da wird ein Frontalangriff auf bildungsbürgerliche Grundsätze zur lässlichen Sünde erklärt. Zu Guttenberg sollte sein Verhalten dringend mit Platons Grundtugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung abgleichen. Chuzpe oder ein dickes Fell jedenfalls gehen nicht als Tapferkeit durch.

Guttenberg gingen viele schlechte Vorbilder voran: Zuletzt haben mehrere CDU-Politiker trotz Wählerauftrags "den Köhler gemacht": Horst Köhler trat zurück, Roland Koch und Ole von Beust. Im lafontaineschen Sinne hielten offenbar auch sie Pflichtgefühl, Berechenbarkeit und Standhaftigkeit für "Sekundärtugenden". Und wer sieht, mit welch eitler Wonne sich Politiker wie Christoph Ahlhaus oder nun Günther Oettinger von der Zeitschrift "Bunte" inszenieren lassen, ahnt es. Mäßigung halten viele nur noch für einen antiken Zopf. Anything goes. Erlaubt ist, was gefällt.

Es wäre aber zu leicht, die Politiker dafür zu verdammen. Sie alle sind Kinder ihrer Zeit. Längst leben die Deutschen in einer Gesellschaft der Aufschneider - wichtig ist nicht, was ist, sondern, wie es scheint. Zugleich gibt es eine Sehnsucht nach Verlässlichkeit, Klarheit, Vernunft. Mit diesen Slogans errang Scholz die absolute Mehrheit. Den bürgerlichen Parteien muss Angst machen, dass die SPD sie plakatiert.