Vor der Korruptionsaffäre war Heinrich von Pierer einer der wichtigsten Manager der Republik. Gestern präsentierte er seine Autobiografie.

Er ist schon eine Viertelstunde vorher da. Unruhig steht Heinrich von Pierer im Foyer der Bundespressekonferenz und wartet. Hier, mitten im Berliner Regierungsviertel, ist die Informationszentrale der Republik. Hier will Pierer heute sein Buch vorstellen, "Gipfel-Stürme" hat er es genannt. Er will sich und sein Lebenswerk erklären. Am 26. Januar wird er 70 Jahre alt, es wird höchste Zeit.

Fast wäre er selbst Regierungspolitiker geworden: Angela Merkel wollte ihn als Wirtschaftsminister. Ja sogar als Bundespräsident war er mal im Gespräch. Er hätte oben im großen Saal der Bundespressekonferenz die Lage der Welt erklären könne, so wie es Regierungssprecher Steffen Seibert an diesem Vormittag tut.

Doch Heinrich von Pierer muss unten bleiben. Er hat sein Amt als Aufsichtsratschef bei Siemens verloren, die Mächtigen meiden ihn heute. Pierers Verlag hat Raum 3 im Erdgeschoss angemietet. Der Höhenunterschied beträgt nur wenige Meter. Wenige Meter, zwischen dem einstigen Bundespräsidentschafts-Anwärter und dem heute Verstoßenen.

38 Jahre war Heinrich von Pierer bei Siemens. "Mister Siemens" wurde er genannt. Am Ende steht sein Name für die größte Korruptionsaffäre der Nachkriegsgeschichte: Siemens-Bedienstete haben Funktionsträger in aller Welt geschmiert, um an Aufträge zu kommen. Mindestens 1,3 Milliarden Euro sollen zwischen 1999 und 2006 mithilfe eines Systems der schwarzen Kassen gezahlt worden sein. Der Fall wurde zum Präzedenzfall und setzte weltweit Maßstäbe in der Korruptionsbekämpfung. Pierer ist das Gesicht dieser Affäre.

Ein bisschen unsicher ist Heinrich von Pierer zu Beginn seiner Pressekonferenz. Früher ist er vor Pressekonferenzen immer auf die Journalisten zugegangen, hat jovial Hände geschüttelt. Heute geht er auf Distanz. "So?", fragt Heinrich von Pierer die Fotografen und hält sich sein Buch vor die Brust. "Gut?" Dann setzt er sich und erzählt.

Er erzählt nicht von schwarzen Kassen, sondern von seiner ersten Banane. Die hatte ihm ein amerikanischer Soldat geschenkt, damals nach dem Krieg. Das gelbe Ding schmeckte Pierer nicht, weil er es mit Schale aß. Heinrich von Pierer will heute Anekdoten erzählen, eine Abrechnung mit Siemens ist das hier nicht. Sein 431-Seiten-Buch ist interessant geschrieben, schließlich hat Pierer selbst mal als Lokaljournalist gearbeitet. Mit der Korruption befasst er sich jedoch nur auf rund 50 Seiten.

Heinrich Pierer von Esch wurde in der Siemens-Stadt Erlangen geboren. Den Adelstitel hatte sein Großvater für seine Verdienste in der Armee von Österreich-Ungarn erworben. Der junge "Heiner" wurde von seinen Eltern im Nachkriegs-Deutschland zum "Hamstern" geschickt, die Eltern tauschten Silberbesteck gegen Kartoffeln und Rüben. Pierer betont die einfachen Verhältnisse, aus denen er kommt.

Dass er überhaupt bei Siemens gelandet ist, verdankt er einer ausgearteten Abiturfeier. Berauscht von Beerenwein stieg er mitten in der Nacht mit seinen Freunden in den Garten eines Siemens-Direktors und planschte nackt in dessen Pool. Die Polizei rückte an - Pierer entschuldigte sich später für seinen Streich. Der Siemens-Mann sagte: "Na ja, wenn Sie mal fertig sind mit Ihrem Studium, dann kommen Sie zu mir!" Acht Jahre später, nach seinem Jura-Studium, schrieb Pierer den Mann an. Und bekam seine erste Stelle als Hausjurist. So einfach war das.

Pierer prüfte Verträge und Wirtschaftsdeals. "Ich habe Glück gehabt, dass ich in interessante Projekte reingekommen bin", sagt er betont bescheiden. Als 1977 ein kaufmännischer Leiter für ein Kernkraftwerk-Projekt im Iran gesucht wurde, fiel die Wahl auf Pierer. Später wurde er "Vorsitzender des Bereichsvorstandes Energieerzeugung", stieg in den Siemens-Vorstand auf, 1992 war er Vorstandsvorsitzender. Ein Aufstieg, der auch viel mit Zufall zu tun hat, sagt Pierer. Warum die Wahl auf ihn fiel, begründet er so: "Ich galt als Kommunikator. Das war vermutlich der Hauptpunkt, der für mich sprach." Und Bescheidenheit: "Das Gehalt war einfach vorgegeben. Da wurde nie verhandelt."

In seiner Amtszeit als Siemens-Chef hat Heinrich von Pierer den Börsenkurs mehr als verdoppelt. Er war verantwortlich für fast eine halbe Million Mitarbeiter. Mit dem Erfolg kam der Kontakt zu den Mächtigen: Pierer war in den Wirtschaftsdelegationen von Helmut Kohl und Gerhard Schröder. "Wir waren Pioniere damals!", ruft Pierer begeistert. Als es einen Pazifik-Ausschuss geben sollte, sagte Kohl: "Pierer, Sie müssen das machen!" Und Pierer machte. Er war der erste Botschafter der Deutschland AG, weil er in diversen Aufsichtsräten von Deutscher Bank bis VW saß. Pierer aß Hammel-Augen im Nomaden-Zelt, führte die Queen durch ein englisches Siemens-Werk und hielt eine Rede vor den Vereinten Nationen in New York. Um die Jahrtausendwende war Pierer auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

Pierer wollte ein Manager zum Anfassen bleiben. Am Wochenende ging er mit seiner Frau auf den Erlanger Wochenmarkt. "Jeder Zweite kannte mich, ich kannte jeden Fünften. Ich war mit der halben Stadt per Du", sagt er stolz. Häufig ging er alleine in die Siemens-Kantine, um mit den Menschen zu reden. Denn die vielen Staatspräsidenten, "das ist nicht die wirkliche Welt", sagt Pierer. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Jetzt fühlt er sich wohl. Gönnerhaft gibt er Tipps. "Für manche sind wir Deutschen mit unserer Effizienz nicht so leicht erträglich", doziert er. Mit Franzosen müsse man erst über die Kultur plaudern und dann über Geschäfte. Und wenn man mit Chinesen zecht, dann sollte man ab und zu ein Glas auf dem Boden entleeren. Was natürlich nur geht, wenn man nicht zufällig in einem Luxushotel mit Veloursteppich verhandelt. Andere Möglichkeit: das Getrunkene unauffällig ins Glas zurückspucken. Pierer mahnt zur Zurückhaltung bei Geschäftsgesprächen: "Eins kann ich euch sagen: Geht mal hin und hört erst mal zu!"

Die Mächtigen haben Pierer gebraucht, auch 2005 noch, als er den Vorstandsvorsitz abgab und Chef des Siemens-Aufsichtsrats wurde: Merkels Job-Angebot als Schattenwirtschaftsminister hat er abgelehnt, weil er nicht durch ein politisches Mandat abgesichert war. Bundespräsident ist dann Horst Köhler geworden. Wie kann es dann sein, dass dieser Kommunikator und Netzwerker nicht wusste, dass Siemens Schmiergeld zahlte? Wie kann es sein, dass er bestreitet, von den schwarzen Kassen gewusst zu haben? Heinrich von Pierer schreibt von einem "Paukenschlag" und einem "Schock", als die Staatsanwaltschaft 2006 anrückte. Er habe vom größten Korruptionsskandal der Nachkriegsgeschichte aus der Zeitung erfahren. Deutschlands erster Manager als Ahnungsloser.

"Die Weisungsbefugnis eines Vorstandsvorsitzenden wird in der Öffentlichkeit überschätzt", sagt er. "Auf das operative Geschäft kann er mit Weisungen gar nicht einwirken." Die anderen Vorstandsmitglieder sind "gleichgestellte Kollegen", große Projekte wurden "ohne Einschaltung des Vorstands abgeschlossen und ausgeführt", "in einem Unternehmen, das rechnerisch jeden Arbeitstag Aufträge von rund 350 Millionen Euro gewinnen muss, geht es nicht anders". Die unendlich vielen Mappen mit Papieren, Hunderte Seiten, Kleingedrucktes, Jetlag nach Dienstreisen - es sei ihm nichts anders übrig geblieben, als sich auf loyale Mitarbeiter zu verlassen. Pierer als kleines Rädchen im Siemens-Getriebe.

Pierer schreibt: "Bei einem Unternehmen mit weltweit mehr als 400 000 Mitarbeitern lässt es sich kaum vermeiden, dass es bei dieser Breite zu Verstößen oder Konflikten kommt." Pierer verteidigt sich: Siemens habe doch, als die Unregelmäßigkeiten publik wurden, sofort reagiert. Nicht nur die Staatsanwaltschaft ermittelte, auch interne Ermittler. Doch die Stimmung im Unternehmen drehte sich: Im Aufsichtsrat legten sie ihm damals nahe, zurückzutreten. Dann würde die Strafe milder ausfallen, hieß es. Es gab Vorwürfe gegen Heinrich von Pierer: Er habe Mitarbeiter zur Bestechung angestiftet, Pierer bestreitet das.

"Ich bin zurückgetreten und habe damit die politische Verantwortung übernommen", sagt er. Die Korruptionsfälle nennt er "Einzelfälle", er bedauere, dass es passiert sei. "Es hat im ganzen Verfahren keinen Anlass gegeben, dass die Leute, die die schwarzen Kassen verwaltet haben, zum Vorstand gegangen sind."

"Jagdsaison" hat Pierer das Kapitel über die Affäre genannt. Der Gejagte ist er, gejagt von den Medien, die von der Staatsanwaltschaft mit Unterlagen versorgt werden. Es sei schade gewesen, so Pierer, "dass meine alten Kollegen im Aufsichtsrat mir nie auch nur ansatzweise bei der Abwehr und Richtigstellung dieser Angriffe geholfen haben".

Für seine Verbannung sorgte in Pierers Augen sein Nachfolger Gerhard Cromme. Pierer verlor sein Büro, seine Sekretärin. Siemens musste zweieinhalb Milliarden Euro Strafe, Steuernachzahlungen, Anwalts- und Beraterkosten für die Korruptionsaffäre zahlen und wollte sich das Geld von den Ex-Vorständen zurückholen. Per Brief teilte Siemens ihm mit, er dürfe die Räume des Konzerns nicht mehr nutzen. Ein "Hausverbot" sei das, schreibt Pierer. Seine persönlichen Sachen wurden zusammengeklaubt und ihm in Umzugskisten in die Garage gestellt.

Fünf Millionen Euro hat Pierer an Siemens gezahlt, um sich eine gerichtliche Auseinandersetzung in aller Öffentlichkeit zu ersparen. Auch mit der Staatsanwaltschaft hat er sich geeinigt: Im vergangenen Jahr akzeptierte er einen Bußgeldbescheid wegen unterlassener Aufsicht - ebenfalls um einen Schlussstrich zu ziehen. Pierer hat eine Ordnungswidrigkeit begangen, keine Straftat. Ein Schuldeingeständnis, betont er immer wieder, sei das alles nicht.

Pierer hat eine Beratungsfirma gegründet und hält Vorträge an Universitäten. Er sagt, er habe erkannt, wer wirklich zu ihm steht. Henry Kissinger habe ihm einen aufmunternden Brief geschrieben, Uli Hoeneß habe angerufen und beim Besuch bei Altkanzler Helmut Schmidt sei Loki Schmidt zum Empfang an die Tür gekommen und habe gesagt: "Damit Sie wissen, Sie kommen heute zu Freunden."

Eineinhalb Stunden hat Heinrich von Pierer in Raum 3 geredet. Sicher, er hätte mehr über die Korruptionsaffäre schreiben können, räumt er ein. Er müsse seine Worte aber sorgsam wählen. "Es gibt Verfahren, die noch laufen." Ab Donnerstag steht in München Thomas Ganswindt vor Gericht, der ehemalige Vorstand für die korruptionsanfällige Kommunikationssparte. Ganswindt könnte Pierer in Bedrängnis bringen. Auch die amerikanischen Behörden könnten sich noch einmal für Pierer interessieren. Doch Pierer fühlt sich sicher. "Ich hätte zu diesen Themen auch keinen neuen Beitrag leisten können", sagt er und versichert: "Ich empfinde außerordentlich freundliche Gefühle für Siemens." Ohnehin denke er gar nicht so häufig an die Affäre. "Für mich ist wichtig, dass ich am Sonntag mein Tennismatch gewonnen habe", sagt er und versucht zu lächeln.

Wie es wirklich in ihm aussieht, schreibt er ganz zum Schluss seines Buchs. Das Unternehmen sei ein "Global Player" geworden, betont er. "Umso mehr schmerzt mich, dass der Korruptionsskandal in den letzten Jahren einen Schatten auf die vielen vorausgegangenen Jahre wirft. Doch gerade weil ich schon so viele Gipfelstürme überstanden habe, bin ich voller Zuversicht, dass sich im Lauf der Jahre die Wahrnehmung klären wird."

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