Der Wandteppich im Restaurant des Vier Jahreszeiten gehörte einer Jüdin. Die Nazis brachten ihn an sich. Kehrt er jetzt zu den Erben zurück?

Hamburg. Jahrzehntelang wäre kein Gast des Restaurants Haerlin in Hamburgs noblem Hotel Vier Jahreszeiten auf die Idee gekommen, dass es sich bei dem kostbaren Gobelin, der den Blickfang des stilvoll eingerichteten Raumes bildet, um Raubkunst handeln könnte. Auch die Hoteldirektion des in der Vergangenheit dreimal verkauften Hauses war sich keiner Schuld bewusst.

Doch jetzt hat sich der Schatten einer unschönen Vergangenheit auf den rund zwölf Quadratmeter großen Bildteppich gelegt. Seit Kriegsende hängt das aus Seide und Wolle gewirkte Stück dort an der Wand. Zuvor war es von der Familie Haerlin versteckt worden. Experten schätzen den Wert auf weit mehr als 100 000 Euro.

Im Herbst 2009 wurde dem jetzt in kanadischem Besitz stehenden Luxushotel erstmals bekannt, dass die Herkunft des Gobelins umstritten ist. Der Berliner Rechtsanwalt Lothar Fremy teilte dem Hotel Vier Jahreszeiten schriftlich mit, dass der jahrhundertealte Wandteppich (wie alt genau, weiß niemand) unter die Kategorie "Raubkunst" fällt. Der Jurist, der mehr als 20 Museen und etliche Privatsammler in dieser Sache vertritt, gilt als Experte auf seinem Gebiet. Er bat das Hotel um einen Termin. "Die Angelegenheit sollte und soll im guten Sinne geregelt werden", sagte Fremy gestern dem Hamburger Abendblatt. Groll wegen der Verzögerung hege er nicht, sondern sei an einer pragmatischen Lösung interessiert.

Nachdem vom Haus am Neuen Jungfernstieg keine Reaktion erfolgte, bestätigte Fremy jetzt Recherchen des NDR. Erst nachdem der Sender das Vier Jahreszeiten um eine Stellungnahme gebeten hatte, sei die Existenz des Briefes von 2009 der Geschäftsführung wieder in den Sinn gekommen. "Er ist irgendwie im Alltagsgeschäft hängen geblieben", hieß es. Dies sei bedauerlich und "alles andere als böse Absicht".

Vom NDR angestoßen, handelte das Hotel rasch. Am Freitag dieser Woche werden sich die Anwälte des Hotels aus Berlin in der Hauptstadt mit Fremy an einen Tisch setzen. "Wir werden mit dem Fall würdig umgehen", sagte die Sales und Marketingdirektorin Judith Fuchs-Eckhoff dem Abendblatt. Bis 2009 sei über die Herkunft des Gobelins nichts bekannt gewesen - neben anderen dieser edlen Teppiche gehörte der in Fremys Schreiben erwähnte Gobelin eben zum stilvollen Inventar. Als Teil der abgeschlossenen Renovierungsarbeiten wurden alle Gobelins aufwendig restauriert. "Wir lieben diese Gobelins, und sie sind unser Stolz", sagte ein leitender Mitarbeiter des Hotels.

Wie sieht die Lösung aus?

"Ich strebe einen fairen Weg an", sagte Rechtsanwalt Lothar Fremy. Als minimales Entgegenkommen bezeichnete er eine Plakette neben dem umstrittenen Stück, auf der dessen Herkunft verzeichnet sei. Weit besser natürlich gefalle ihm die "große und großherzigste Lösung": Das Hotel Vier Jahreszeiten übergibt den Gobelin, ohne Ansprüche zu stellen.

Das Hotel will erst den Anwaltstermin in drei Tagen abwarten und sich dann über die Möglichkeiten unterhalten. Grundsätzlich bestehe Gesprächsbereitschaft, um das Thema zügig und für beide Seiten zufriedenstellend ad acta legen zu können. "Es handelt sich ohnehin nicht um eine juristische, sondern um eine moralische Frage", sagte Judith Fuchs-Eckhoff. Das Haus habe sich immer zu seiner Geschichte, auch der während der Nazizeit, bekannt. In einem 2009 publizierten Buch über das Traditionshotel war diesem Kapitel großer Raum gewidmet worden. Zwischen den Zeilen ist klar, dass es keinen großen (Rechts-)Streit geben wird.

Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Die Antwort hat Fremy rasch parat - durch viele ähnlich gelagerte Fälle bestens vorbereitet. "Möglich wären ein gemeinsamer Verkauf oder die Zahlung einer einmaligen Summe", sagte der Anwalt unserer Zeitung. Der Erlös wird dann unter der Erbengemeinschaft aufgeteilt.

Unstrittig ist, dass der Gobelin Emma Budge gehörte, einer bemerkenswerten Hamburgerin mit amerikanischem Pass und jüdischer Herkunft. Ihr Mann Henry (Heinrich) Budge war im 19. Jahrhundert in die USA gegangen, wo er ein märchenhaftes Vermögen gemacht hatte. Als er sich 1900 zur Ruhe setzte, kehrte das Paar in Emmas alte Heimat nach Hamburg zurück, wo es sich an der Außenalster von Rathaus-Baumeister Martin Haller eine Villa errichten ließ. Dass Stadtpalais, das Haller unter Einbeziehung eines früheren Wohnhauses am Harvestehuder Weg baute, war nach dem Wunsch der Auftraggeber im Loire-Stil gehalten. Glanzpunkt des Hauses, das heute die Hochschule für Musik und Theater beherbergt, war der 16 Meter lange und acht Meter breite, im Neorokoko gehaltene Spiegelsaal - Henrys Geburtstagsgeschenk für seine Emma. Glücklicherweise blieb dieses Raumkunstwerk erhalten, 1987 wurde der Spiegelsaal demontiert und im Innenhof des Museums für Kunst und Gewerbe originalgetreu wiederaufgebaut.

Ein passender Ort, denn zu dem Museum am Steintorplatz unterhielt Emma Budge intensive Kontakte. Beraten vom damaligen Direktor Justus Brinckmann, baute sie im Lauf der Jahre eine hochkarätige Sammlung mit Kunsthandwerk des 17. und 18. Jahrhunderts auf. Die etwa 1000 Objekte hatte das kinderlose Ehepaar dem Museum für Kunst und Gewerbe zugedacht.

Es sollte anders kommen: 1933, fünf Jahre nach Henry Budges Tod, kamen die Nazis an die Macht. Dank ihres amerikanischen Passes war Emma zwar vor dem direkten Zugriff der braunen Machthaber geschützt, dennoch versuchten die Behörden, ihr das Leben schwer zu machen. Verärgert zog sie die Konsequenzen und änderte ihr Testament: Nicht mehr die Stadt sollte ihren Besitz erben, sondern die Familie, auch wenn es nur entfernte Verwandte gab.

Desillusioniert und verbittert starb Emma Budge 1937. Ihr Nachlass wurde auf 34 Millionen Mark geschätzt. Um das Testament scherten sich die Behörden nicht, bedenkenlos brachte die Stadt den Besitz an sich. Im Budge-Palais bezog der Hamburger NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann Quartier, und im mondänen Spiegelsaal feierten von nun an Nazi-Größen ihre Feste.

Die Versteigerung der Kunstsammlung, die noch 1937 in Berlin stattfand, war eine Sensation. Sammler, Kunsthändler und die Bevollmächtigten bedeutender Museen erwarben die in Jahrzehnten zusammengetragenen Schätze. Das Museum für Kunst und Gewerbe kaufte damals zwei silberne Trinkgefäße, Nürnberger Arbeiten aus dem 16. Jahrhundert, und bezahlte dafür 6750 Mark, einen marktüblichen Preis. Im Auftrag des damaligen Direktors Fritz Haerlin ersteigerte ein Kunsthändler für 14 100 Mark den Gobelin, was ebenfalls den damals üblichen Preisen entsprach.

Insgesamt betrug der Auktionserlös eine Million Reichsmark. Es war die höchste Summe, die eine Kunstauktion während der NS-Zeit jemals erbrachte. Die Erben sahen davon keinen Pfennig. Als jene Erben, die den Holocaust überlebt hatten, nach dem Krieg Ansprüche anmeldeten, wurden sie nach langem juristischem Hin und Her 1952 von der Stadt in beschämender Weise mit lächerlichen 22 500 Mark mehr abgespeist als abgefunden.

Zu einem späten Akt einer Wiedergutmachung kam es erst im Jahr 2002: Als das Museum für Kunst und Gewerbe mehr zufällig Kontakt zu in den USA lebenden Budge-Erben fand, zahlte es ihnen aus Mitteln der Campe'schen Kulturstiftung eine Abfindung von 120 000 Euro. Der damalige Museumsdirektor Wilhelm Hornbostel setzte sich für diese Lösung ein, nachdem der renommierte Hamburger Anwalt Daniel Ajzensztejn die Rechtslage geklärt hatte. Im Resümee der 38 Seiten umfassenden juristischen Expertise heißt es zwar ausdrücklich, dass "keine gesetzlichen öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Rückerstattungs- bzw. Entschädigungsansprüche der Budge-Erben" bestehen. Doch aus "sittlich-moralischen Gesichtspunkten" sei eine Rückerstattung, zumindest jedoch eine Entschädigung, geboten.

Eine Einschätzung, die sich wohl auch auf den Gobelin in Hamburgs noblem Hotel Vier Jahreszeiten übertragen lässt. Die gestrigen Reaktionen lassen auf einen beiderseitigen guten Willen und auf eine rasche Lösung schließen.