120 junge Männer aus ganz Norddeutschland mussten am Montag ihren Wehrdienst antreten -ein Truppenbesuch in Alt-Duvenstedt.

Kurz nach der Unterquerung des Nord-Ostsee-Kanals beginnt das landschaftliche Nichts. Denn entlang der Bundesstraße 77, die Rendsburg und Schleswig miteinander verbindet, liegen nur Felder und Wiesen, deren reizvolle Monotonie nur zeitweilig von Birken- und Tannenwäldchen unterbrochen wird. Und von der Hugo-Junkers-Kaserne des Lufttransportgeschwaders 63, die sich allerdings noch einmal rund eineinhalb Kilometer abseits in der schleswig-holsteinischen Knicklandschaft versteckt.

Alle 500 Meter hockt ein MG-Schütze regungslos im Straßengraben. Diese lustigen Wegweiser zur Rekrutenaufnahme, ausgediente Pappkameraden vom Schießstand, haben sich die Zugführer des 5. Aufklärungsbataillons 6 "Holstein" einfallen lassen. Die zerbeulten Zielscheiben weisen 120 jungen Männern aus Norddeutschland den Weg auf das Kasernengelände, das für mindestens die nächsten drei Monate ihr Zuhause sein wird. Zwei Dutzend zweistöckige Rotklinkerbauten, die an den sozialen Wohnungsbau der 1960er-Jahre erinnern, verstreut im Gelände, umzäunt mit Nato-Draht. Hinterm Landmaschinenhandel Peters rechts rein, Richtung Krummerorterheide, bis sich dann irgendwann ein Schlagbaum öffnet und das Leben vielleicht nicht mehr so unbeschwert sein wird, wie es eben noch war. Fürs Erste jedenfalls.

Dass sie die vorerst letzten wehrpflichtigen Bundeswehrrekruten sind, 120 von 12 000, die zum 3. Januar 2011 zur Allgemeinen Grundausbildung eingezogen wurden, wissen sie, aber es scheint ihnen ziemlich egal zu sein. Jedenfalls ist es kein Thema bei ihren Gesprächen vor der zentralen Registrierungsstelle im Unterrichtshaus. Sie mustern sich scheu und unterdrücken ihre Aufregung. Fast alle tragen eine dicke Winterjacke, Jeans und Sneakers und haben eine Sporttasche aus Nylon dabei. So wirken die letzten Pflicht-Rekruten seltsam uniformiert. Dabei werden sie ihre olivgrüne Dienstkleidung erst in den nächsten zwei Tagen erhalten und die Waffen sowieso. Gut die Hälfte von ihnen raucht noch rasch in der feuchten Kälte eine Zigarette, bevor der Papierkram drinnen beginnt.

Einer von ihnen ist Finn Groth, 19 Jahre, aus Hamburg-Langenhorn. Er hat nach seinem Hauptschulabschluss eine dreijährige Lehre als Lagerfacharbeiter abgeschlossen. Finn ist ein kräftiger Kerl mit kurzem Haarschnitt. Mit seinen 1,90 Metern überragt er die meisten seiner neuer Kameraden. Er sieht seine berufliche Zukunft beim Heer und möchte unbedingt die Offizierslaufbahn einschlagen. Deshalb hatte er nach seiner Musterung und einem Beratungsgespräch vor neun Monaten auch nicht gezögert, sich für vier Jahre als Zeitsoldat zu verpflichten. "Wenn ich das nicht gemacht hätte", sagt er selbstbewusst und grinst leise dabei, "dann würde ich jetzt wahrscheinlich für irgendeinen Bauern in Meck-Pomm Trecker fahren. Aber so komme ich vielleicht sogar noch mal rüber nach Afghanistan."

Die vom Bundesverteidigungsminister Guttenberg durchgedrückte Reform ist eine der tiefgreifendsten Veränderungen in der Geschichte der Bundeswehr. Erstmals seit Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1957 werden junge Männer nicht mehr eingezogen. Noch im Kalten Krieg verfügte die Bundeswehr über rund 500 000 Soldaten, in der Nationalen Volksarmee der DDR dienten zu jener Zeit 170 000 Soldaten. Nach dem Mauerfall wurde die NVA aufgelöst und teilweise in die Bundeswehr integriert. Die Truppenstärke wurde zunächst auf 370 000 Mann reduziert und weiter schrittweise abgebaut.

Ein erfahrener Ausbilder wie der Hauptfeldwebel Peter Alkos Levens, 35, sieht in dieser politischen Entscheidung Vorteile für seine Arbeit, die er mittlerweile nun schon 14 Jahre macht. "Auf diese Weise ist die Chance gegeben, dass die Truppe effizienter wird, als sie es jetzt schon ist. Denn wer freiwillig dient, interessiert sich doch automatisch für den Soldatenberuf."

Im vergangenen Jahr war der Wehrdienst auf sechs Monate verkürzt worden, was viele Militärs und Politiker bereits als Aus für die Wehrpflicht deuteten, die in Deutschland im Zuge der Freiheitskriege gegen das napoleonische Frankreich vor gut 200 Jahren eingeführt wurde. Später, im kaiserlichen Deutschland, war ein Reserveoffizierdienstgrad Ausweis gehobener gesellschaftlicher Existenz. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschland im Versailler Vertrag die allgemeine Wehrpflicht verboten. Die Wiedereinführung im nationalsozialistischen Deutschland im Jahre 1935 markierte den offenen Bruch mit dem Versailler Vertrag und schaffte die Grundlage für das Massenheer des Zweiten Weltkriegs.

Den längsten Wehrdienst mussten Männer in den 1960er- und 1970er-Jahren leisten. Damals waren es 18 Monate, und entweder man kannte einen guten Arzt oder schaffte es irgendwie, West-Berliner zu werden, um diesen eineinhalb Jahren Wehrdienst zu entgehen. Andererseits gingen damals auch viele junge Männer gerne zur Bundeswehr, um den Motorrad- und Lastwagenführerschein zu machen. "Heute ist das zeitlich gar nicht mehr drin, im Übrigen gibt's ja auch noch sechs Tage Urlaub und der letzte Monat ist voll gepackt mit Terminen, Gesprächen und Informationsveranstaltungen, die auf das Leben nach dem Wehrdienst vorbereiten sollen", sagt Ausbilder Levens.

"Bei 18 Monaten hätte ich es mir wahrscheinlich auch überlegt, aber dieses halbe Jahr geht doch schnell vorbei", meint Stefan Depcke, 22, aus Hamburg-Schnelsen, der mit einer abgeschlossenen Lehre als Anlagenmechaniker seinen Dienst beim Aufklärungsbataillon antritt. Dass einem bei einer Nachtübung im Winter bitterkalt werden kann, weiß er, "aber meine Freunde und alle Männer aus meiner Familie waren beim Bund. Da konnte ich doch nicht aus der Reihe fallen. Und meine Freundin Danika hat es auch nicht gestört - die kennt das ja schon von ihrem Ex." Stefan Depcke hofft vor allem, dass ihm die Zeit Spaß machen wird. "Ich habe zwar keine großen Erwartungen", meint er schulterzuckend, "aber ich glaube schon, dass mir der Bund was bringen könnte."

Die ersten Stunden beim Bund empfindet er allerdings alles andere als spannend, und so geht es wahrscheinlich den meisten Rekruten. In der Reihe stehen, sich registrieren lassen, Formulare ausfüllen für die Krankenkasse, die Sozial- und Rentenversicherungsträger. Nach gut einer Stunde geht es in Zugstärke von jeweils acht bis zehn Mann in einer Reihe hinüber zum Quartier, dass die länger gedienten Kameraden sinnigerweise "Haus Eutin" benannt haben. Ein großes handgemaltes Schild überm Eingang macht Verwechslungen unmöglich. Denn die "Aufklärer" vom Heer sind wegen Bauarbeiten in ihrem Stammquartier, der Rettberg-Kaserne in Eutin, bei den "Herren von der Luftwaffe" in der Hugo-Junkers-Kaserne nur vorübergehend untergeschlüpft. Und in einer Reihe marschieren sie, weil man den jungen Männern damit schon einmal einen winzigen Vorgeschmack darauf geben kann, was sie in wenigen Tagen erwartet, wenn sie Formationsmarschieren üben müssen. Den Gleichschritt. "Eine ausgestreckte Armlänge zum Vordermann ist optimal!", ruft Unteroffizier Simon Wüstenberg, 23. Er streckt den linken Arm aus, ruft "links um!" Da ruckelt es im Zug, zwei Rekruten kommen kurz aus dem Tritt.

Drinnen, im kahlen Flur ihres Quartiers, dürfen die jungen Männer erst einmal weitere Formulare ausfüllen, bevor ihnen die Stuben zugewiesen werden. Es sind Viermannzimmer mit Etagenbetten, Spinden und Stühlen mit hellem Buchenholzfurnier. Finn Groth ist mit Dominik Nord, 18, Realschüler aus Kiel, dem 23 Jahre alten Gärtner Markus Domrove aus Hamburg und der 19 Jahre alten Aushilfskraft Dominic Stooff aus Lübeck auf einer Stube gelandet. Die Rekruten wurden zufällig zusammengewürfelt. Sie sollen Gemeinschaftssinn entwickeln und Kameradschaft. "Den Begriff Teamfähigkeit gibt's erst seit den 80er-Jahren bei der Truppe", sagt Levens.

Die Rekruten essen gemeinsam die Verpflegung, die man ihnen in einer silbernen Isoliertüte zusammengepackt hat: eine Kabanossi, Käse, Brot und Butter, ein Müsliriegel und ein Multivitaminsaft aus dem Tetrapak. Sie reden nicht viel. Kurz darauf werden sie von ihrem Zugführer abgeholt und nehmen in einem Nebengebäude ihre Bettwäsche in Empfang. Was ohne Formular ebenfalls nicht möglich ist. Jetzt werden sie lernen müssen, ihre Betten richtig zu beziehen. "Früher", sagt Hauptfeldwebel Levens, "musste die Kante der Bettwäsche so akkurat gefaltet sein, dass ein Fünf-Mark-Stück darin rollen konnte. Heute sehen wir das natürlich nicht mehr ganz so eng."

Die vier Rekruten werden dann weiter warten müssen. In ihren Stuben, wie ihre 116 Kameraden auch. Aufs Abendessen, um 18 Uhr. Sie haben Anspruch auf 3600 Kalorien täglich. Doch am ersten Tag verbrennen sie noch keine Kalorien. Erst der zweite Tag wird mit dem Frühsport beginnen. Und übernächstes Wochenende dürfen sie dann alle zum ersten Mal wieder nach Hause.