Diplom-Psychologe Michael Thiel, 50, aus Hamburg ist Spezialist für Verhaltenstherapie und Jugendpsychologie.

Hamburger Abendblatt:

1. Nach der neuen Shell-Jugendstudie ist nur jeder dritte Jugendliche aus sozial benachteiligten Jugendlichen optimistisch, im Vergleich zu 59 Prozent aller Jugendlichen. Entscheidet die Herkunft über die Freude am Leben?

Michael Thiel:

Zum Teil. Geld ist zwar nicht alles. Aber Lebensfreude hat auch mit der wirtschaftlichen Situation zu tun, gerade in einer Zeit, in der es so sehr um materielle Werte geht oder darum, durch Klamotten oder Handys zu zeigen, ob man dazugehört. Wer nicht mithalten kann, gerät leicht ins Abseits. Die Lebensfreude wird oft von den Eltern auf die Kinder übertragen. Wer aus wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen kommt, hat schnell das Gefühl: Ich bin nicht willkommen. Die Welt will mich nicht. Das schmälert natürlich die Lebensfreude erheblich.

2. Fast alle Jugendlichen (96 Prozent) nutzen das Internet. Wird die kommende Generation dadurch klüger?

Thiel:

Nein, sie wird nur anders. Denn oft fehlt das Wissen, wie man den Wust der Informationen aus dem weltweiten Netz nutzen kann. Das Internet kann auch schaden, wenn Jugendliche meinen, sie bräuchten nichts mehr zu lernen, weil im Netz alles abrufbar ist. Sie googeln sich durchs Leben, ohne Hintergründe zu begreifen. Das Wissen ist oft nur bruchstückhaft, es fehlen die Zusammenhänge.

3. Immer mehr junge Leute meinen, zum Glück im Leben gehöre auch eine Familie. Spiegelt sich hier ein neuer Hang zum Konservativen wider?

Thiel:

Das erstaunt mich nicht. Ich kenne viele Jugendliche, die aus Scheidungsfamilien kommen und deshalb das Bedürfnis nach Bindung haben, nach einer sicheren Zukunft und einer heilen Familie. Je komplizierter unsere Welt wird, desto mehr ziehen sie sich in eine Art Kokon zurück.

4. Was halten Sie für charakteristisch für die "Jugend von heute"?

Thiel:

Die Jugend von heute gibt es nicht. Es gibt eine Bandbreite von brav Karriere Machenden, die nie auffallen, bis zu den Losern, die verzweifelt sind, weil sie keine Lehrstelle finden. Denen kann geholfen werden, wenn man herausfindet, was sie leisten können, und sie darin unterstützt. Kein Kind kommt als Loser zur Welt. Da muss es vorher riesige Frustrationen gegeben haben.

5. Wo bleiben Auflehnung und Protest gegen die Generation der Eltern, wo sind ihre Ideale?

Thiel:

Sie haben Ideale, aber sie sind nicht mehr so einfach sichtbar. Die Generation von heute ist anders, aber nicht braver. An Politik sind nur wenige interessiert. Die Ideale sind individueller, nicht mehr auf breiter Basis nach dem Motto "Wir retten die Welt" wie in meiner Generation. Vielen geht es mehr darum, materielle Sicherheit zu erreichen und mit ihr vermeintlich das persönliche Glück.