Der deutsche Hang zur Schwarzmalerei hat lange Tradition. US-Autor Eric Hansen sieht “Nörgeln“ sogar als Quelle der nationalen Identität.

Die Deutschen schaffen sich ab. Ausgerechnet dieses Volk, weithin bewundert für Tüchtigkeit und Geschäftssinn, überlässt das Kinderkriegen so unsicheren Kantonisten wie Migranten und Sozialhilfeempfängern, warnt Thilo Sarrazin: "Wir nehmen als unvermeidlich hin, dass Deutschland dümmer und kleiner wird."

Das ist die Kernbotschaft, der Mayday-Notruf des deutschen Alarmismus seit Jahren. Sarrazin, der Terminator unter den Teilzeit-Orakeln, liegt damit voll in einem Langzeittrend: Der Deutschen liebste Beschäftigung ist das Nörgeln, das Warnen vor dem Untergang. Warum eigentlich? Der Amerikaner Eric T. Hansen ist als Autor seit Jahren auf der Suche nach dem Kern der deutschen Kultur, dem inneren "Planet Germany". Jetzt hat er mit munterer Gründlichkeit die Lust am Maulen und Schwarzsehen untersucht: In seinem neuen Buch "Nörgeln" beschreibt er Hauptanwendungsgebiete, Hintergründe, Erscheinungsformen und gesellschaftliche Funktion. Willkommen beim Volk des Weh und Ach.

Nörgeln ist in Deutschland kein Privatvergnügen, stellt Hansen fest: "Es ist das ursprüngliche Fundament der Gesellschaft und die heimliche Quelle der nationalen Identität." Hansen, der mittlerweile in Berlin lebt, fielen deutsche Nörgel-Klischees auf, die es schon seit den 80er-Jahren gibt. Das machte ihn neugierig. "Ein ganz dauerhaftes Klischee ist zum Beispiel 'soziale Kälte'. Es ist angeblich in Deutschland immer sozial kalt. Und es wird immer kälter. Aber keiner friert richtig."

Und Faust sprach: "Es möchte kein Hund so länger leben"

Ein merkwürdiger Widerspruch: Bei nüchternem Blick auf die Datenlage steht Deutschland mit seinen hohen Sozialausgaben unglaublich gut da. Auch nach dem Gini-Koeffizienten, einem Maßstab für soziale Ungleichheit, liegt Deutschland nahe an "gerechten" Ländern wie Schweden oder Dänemark. Aber in der gewohnheitsmäßigen Annahme, dass ja alles schlechter wird, wähnen sich die Deutschen gleichauf mit Simbabwe oder Guatemala.

"Warum sagt keiner: Moment mal, was meinen wir eigentlich mit 'soziale Kälte'?", fragt Hansen. "Man verwendet dieses Klischee in dem wohligen Gefühl, es müsse richtig sein. Man hat in der Kindheit schon gehört, dass die Gesellschaft kälter wird, alle haben darüber geklagt, alle klagen jetzt darüber. Also muss es ja irgendwie stimmen."

Und der Widerspruch wird noch merkwürdiger. Gerade in Deutschland sind aus dem Nörgeln - als Sammelbegriff für populäre Kritik - gewaltige Umwälzungen entstanden. Luther zum Beispiel. Hätte er sich nicht schwarzgeärgert über den Ablasshandel, dann hätte er im Kloster weiter Bußübungen gemacht, statt die Reformation loszutreten. Was blieb? Nicht Stolz auf die Reformation, sondern Kirchenkritik als Mannschaftssport. Oder Bismarck. Trotz der nölenden kaiserlichen Behörden zimmerte er ein bahnbrechendes Sozialgesetzbuch. Was blieb? Schulkinder halten Bismarck für einen Hering.

Der Inhalt des Nörgelns muss nicht einmal berechtigt sein, um die Deutschen sofort zu faszinieren. Thilo Sarrazin dürfte wissen, dass Geburten- und "Nettoreproduktionsrate" in Ländern wie Südkorea oder Italien noch geringer sind als bei uns. Das ficht ihn nicht an. Mit lautem Nörgeln fällt er viel mehr auf als mit stillem Greinen.

Was das Nörgeln so populär macht, ist "das Genießen der inneren Hilflosigkeit", schreibt Hansen. "Es ist das dem eigenen, herrlich winselnden Unterton Hinterherlauschen. Es ist die erhebende Empörung, dass man es doch hätte besser machen können, wenn Frau Merkel nur auf einen gehört hätte." Ja, hätte sie doch gehört: auf mich, Sie und all die anderen ehrenamtlichen Bundeskanzler/-innen und Bundestrainer/-innen und Expert(inn)en. Frauen könnten längst genauso viel Rente kriegen wie Männer. Körperscanner wären längst abgeschafft. Der Osten wäre eine blühende Landschaft. Hätte, wäre, könnte. Aber immer läuft alles schief.

Das hat Tradition, fand Hansen heraus. Mit Faust, dem urdeutschesten aller Theaterhelden, habe Goethe "ein Sinnbild des deutschen Nörglers" geschaffen, das noch heute gültig ist. "Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen,/ Doctoren, Magister, Schreiber und Pfaffen; ... Dafür ist mir auch alle Freud' entrissen,/ Bilde mir nicht ein was rechts zu wissen,/ Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,/ Die Menschen zu bessern und zu bekehren./ Auch hab' ich weder Gut noch Geld,/ Noch Ehr' und Herrlichkeit der Welt./ Es möchte kein Hund so länger leben! ..."

Nörgeln setzt womöglich sogar Glückshormone frei

Der ganz große Blues. Wir erinnern uns: Faust ist mehrfacher Doktor, musste nie im Bergwerk oder auf dem Felde schuften. Jemand wie er würde heute in diversen hoch dotierten Gremien sitzen. Trotzdem lamentiert er über "sauren Schweiß", das Leben sei ein "verfluchtes dumpfes Mauerloch". Faust machte es allen vor: Der wahre Deutsche leidet nicht, weil es ihm schlecht geht, sondern obwohl es ihm gut geht.

Das Nörgeln hat in verschiedenen Biotopen eine klare Funktion. Unter anderem im Bermudadreieck Eltern-Schule-Lehrer. Oder in Unternehmen: Da ist Nörgeln unverzichtbar fürs Betriebsklima. Die Sekretärin klagt, dass Kaffeekochen nicht zu ihren Aufgaben gehöre. Der Chef orakelt, man sehe ganz schweren Zeiten entgegen. Lieblings-Nörgelthemen sind Urlaubslisten, ausbleibende Beförderungen und warum sich schon wieder keiner um den Papierstau im Kopierer kümmert.

Dabei ist gemeinsames Nörgeln geradezu teambildend, fand Hansen heraus. Je strenger die Hierarchie in einer Abteilung ist, desto wichtiger wird der Zusammenhalt unter Leidensgenossen.

Und desto kritischer werden Anregungen von außen abgewehrt. Da stellt die junge Kollegin vom Vertrieb in einer tollen Power-Point-Präsentation eine neue Idee vor - und die Truppe vom Marketing zetert, dass keine Schokokekse auf dem Tisch stehen. Viele Innovationen scheitern schon auf dem kleinen Keks-Weg. "Bill Gates ist nicht durch Nörgeln groß geworden", sagt Hansen. Man werfe den Amerikanern gerne vor, sie seien in ihrer Begeisterungsfähigkeit zu naiv. Sie seien aber auch flexibler. Die deutsche Wirtschaft dagegen bewege sich viel langsamer.

Wissenschaftler reagierten überrascht auf Hansens Frage, ob es tiefenpsychologische oder hirnorganische Gründe für die Nörgelleidenschaft gebe. "Nörgeln ist zunächst eine Bewältigungsstrategie", sagt der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther. Wenn man ein Angst einflößendes Problem nicht lösen könne, "jammert man in der Hoffnung, dass jemand anderer Mitleid hat und die Problemlösung übernimmt". Für den Bremer Hirnforscher Gerhard Roth rührt das Nörgeln aus einer Mischung von niedriger Frustrationstoleranz und übersteigerter Selbsteinschätzung. Der Kölner Neurochemiker Marco Rauland schließt nicht aus, dass das Gehirn Nörgeln belohnt: Wenn man das Gefühl hat, man selbst hat recht und alle anderen nicht, wird das "Glückshormon" Dopamin ausgeschüttet. Als habe man beim Sport gewonnen.

In der Fülle von Einwänden stecken auch ein paar gute Erkenntnisse

Wollen sich denn die Deutschen nicht helfen lassen? Nur ungern, meint Hansen: "In Deutschland gilt Nörgeln als Zeichen von Intelligenz. Wer nörgelt, hat kapiert, dass hinter jeder guten Nachricht auch eine schlechte steckt. Der Nörgler weiß, dass die Welt ihn reinlegen will, und stemmt sich dagegen." Das habe in der Politik sogar Erfolg. "Die Hartz-IV-Debatte etwa versetzt die Politik in Angst und Schrecken", sagt Hansen. "So setzt das Volk hohe soziale Leistungen durch, auch wenn der Staatshaushalt belastet ist. Das Volk kann den Staat durch Nörgeln lenken." Streit und Nörgeln in Parteien, Regierungen und Kommunen, Proteste gegen die Atomlaufzeiten, Einsprüche gegen den Bau von Windparks, Dauergezeter um die Gesundheitsreform: Das Nörgeln gehört mittlerweile zu einem demokratischen Ritual.

Es kostet nichts. Jeder kann mitmachen. Es entlastet. In einer Art kollektiver Vorratsproduktion wird so viel Genörgel ausgeschüttet, dass unter all den Warnungen, Schuldzuweisungen und Problemdebatten auch immer ein paar wichtige Einwände oder Erkenntnisse herauskommen.

Damit gibt es nur ein Problem: Nörgeln kann bremsen und verhindern, aber es schafft kaum Neues, Positives. "Die Italiener neigen dazu, schnell, laut, heftig und unsachlich zu nörgeln, und dann hören sie auf und machen etwas anderes. Im Gegensatz zu den Deutschen, die sachlich nörgeln, aber nie damit aufhören. Sie nörgeln weiter, bis das nächste Nörgelthema da ist."

Eric T. Hansen: Nörgeln, Fischer, 267 S., 8,95 Euro