Der 75-jährige Otto L. tötet seine schwerstkranke Frau und scheitert beim Suizidversuch. Des Mordes angeklagt, sitzt er in U-Haft.

Rissen. Seinen Verteidiger Ulf-Diehl Dreßler erinnert der Fall an eine "griechische Tragödie": Sein Mandant, ein 75 Jahre alter Mann, sieht keinen Ausweg mehr. Er bringt seine geliebte, pflegebedürftige Frau um und scheitert dann beim Versuch, sich das Leben zu nehmen. Nachdem er sich gestellt hat, steckt das Gericht den alten Mann in Untersuchungshaft.

Otto L. ist ein schmächtiger Mann. Gefasst betritt er den Gerichtssaal, mit dunklen Ringen unter den Augen. Er ist ein ehemaliger Justizbeamter, der sich nun selber in den Händen der Justiz befindet. Ihm haftet das Etikett "mutmaßlicher Mörder" an, er ist angeklagt, seine Ehefrau, 88, ermordet zu haben.

Die Rollen sind klar verteilt: Otto L. wollte seine Frau erlösen, die Staatsanwaltschaft will Sühne, das Gericht Gerechtigkeit. Die Tat liegt fünf Monate zurück, und die Schuld laste schwer auf ihm wie ein Mühlenstein, sagt Dreßler.

Dabei habe er sie geliebt. Lydia L. (Name geändert) ist 13 Jahre älter als er, mehr als 40 Jahre sind sie verheiratet. In Rissen am Tinsdaler Heideweg haben sie sich eine kleine, heile Welt gebaut. Ein schmuckes Nest mit Backsteinklinker und gepflegtem Vorgarten. Sie führen eine glückliche Ehe, die kinderlos bleibt. Die beiden, sagt Dreßler, seien regelrecht fixiert aufeinander gewesen. Als die alte Dame 2008 erfährt, dass sie unter Altersdemenz leidet, ist für Otto L. klar: Das packen wir.

Er muss es packen, weil es sonst keinen gibt, von dem Lydia L. Hilfe annehmen würde. Nicht mal eine Haushälterin kommt der alten Dame in die Wohnung. Otto L. muss es alleine richten: den Haushalt schmeißen, seine Frau waschen und füttern, die Einkäufe und Behördengänge erledigen, den Garten pflegen. Immer gut gelaunt ist Otto L., immer für einen Spaß gut. "Ein ausgesprochen netter, hilfsbereiter Mensch", sagt eine Nachbarin.

Otto L. funktioniert wie ein Kreisel, der sich dreht, solange genug Energie da ist. Er merkt gar nicht, wie er zwischen Aufgaben und Pflichten allmählich zerrieben wird. Der Preis für die jahrelange Fixierung auf seine Frau ist die Einsamkeit. Und Lydia L. siecht dahin, jeden Tag ein bisschen mehr.

Plötzlich überfordern ihn Kleinigkeiten: Erst streikt der Herd, dann die Kaffeemaschine, dann lässt er sich am Telefon einen Vertrag aufschwatzen. Im Schlafzimmer liegt seine Frau, die er geliebt hat, krank und hilflos. Otto L. weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Draußen vor dem schönen Haus, es ist Frühlingsanfang, blühen die ersten Stiefmütterchen. Die Zeit des Aufbruchs, aber Otto L. denkt nur noch an das Ende. Der 75-Jährige plant, in die Elbe zu springen, rechnet bei den eisigen Wassertemperaturen mit einem schnellen Tod. Was aber wäre mit seinem Leichnam? Der würde davontreiben, erst Tage später gefunden werden. Wer würde sich in der Zeit um seine Frau kümmern?

Der psychiatrische Gutachter wird später feststellen, dass sich bei Otto L. eine affektive Anspannung aufbaut, eine Art Gewitter im Kopf - das sich am 20. März schlagartig entlädt.

Der 20. März ist ein regnerischer Tag, Otto L. hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Bevor er das Haus verlässt, schaut er gegen 9 Uhr früh nach seiner Frau. Er nimmt ein Kissen, drückt zu - so lange, bis sie erstickt ist. Dann breitet er eine Decke über den toten Körper und will nun auch sterben. Otto L. fährt mit dem Rad vor mehrere Autos, doch die Fahrer können im letzten Moment ausweichen. Am Schulauer Weg streift ihn ein Bus. Mit leichten Verletzungen kommt er in die Klinik - und gesteht den Polizisten: "Ich habe meine Frau umgebracht."

Er ist 75 Jahre alt, nicht vorbestraft, hat einen festen Wohnsitz. Dennoch steckt ihn der Haftrichter in U-Haft. "Die Entscheidung über die Unterbringung hängt mitnichten von der Schwere der Tat ab", sagt Justizsprecher Conrad Müller-Horn. Doch bei Otto L. erkennt der Haftrichter auf Fluchtgefahr - der alte Mann habe mit seinem Leben abgeschlossen. "Nur menschenverachtend", findet Dreßler die Begründung.

Gleichzeitig lässt die Justiz Intensivtäter frei herumlaufen. Gewalttäter wie die beiden 17-Jährigen und 18-Jährigen, die im Fußgängertunnel Harburg Anfang Juni einen Radfahrer ausgeraubt haben. Wie den jungen Mann, der einen 25-Jährigen in Dulsberg Ende Juli krankenhausreif geschlagen hat. Doch Otto L., betagt und suizidgefährdet, landet in der Haftanstalt am Holstenglacis, wo er eine Stunde täglich im Hof spazieren gehen darf. Wenige Wochen darauf wird er nach Lübeck verlegt. Zum Prozess ist er wieder in Hamburg. "Ihm geht es sehr schlecht", sagt Dreßler. Die Staatsanwaltschaft legt Otto L. Mord zur Last. "Eine übereilte Anklage", sagt Dreßler. Für ihn stelle sich der Fall als "Mitnahmesuizid" dar, vielleicht als Totschlag in einem minderschweren Fall, da von einem "bewussten Ausnutzen der Arglosigkeit" des Opfers nicht die Rede sein könne. "Er bereut die Tat und weiß, dass er schwere Schuld auf sich geladen hat", sagt Dreßler. Und hofft auf eine Bewährungsstrafe.