Dr. Gerhard Strate, 60, ist ein bundesweit bekannter Hamburger Strafverteidiger.

1. Hamburger Abendblatt:

Der Anklagevorwurf gegen einen 75 Jahre alten Mann wiegt schwer. Die Staatsanwaltschaft wirft dem nicht Vorbestraften vor, seine schwerstkranke Frau ermordet zu haben. Sein Suizidversuch scheiterte. Trotz festen Wohnsitzes verhängte das Gericht U-Haft, weil es von einer Fluchtgefahr ausgeht. Ist das nachvollziehbar?

Gerhard Strate:

Die Frage, ob eine Untersuchungshaft angeordnet wird oder nicht, wird zunächst durch die Schwere des Tatvorwurfs beeinflusst. Neben einem dringenden Tatverdacht muss aber auch einer der drei Haftgründe - Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr - vorliegen. Grundsätzlich gibt es keine altersmäßige Begrenzung für die Untersuchungshaft.

2. Hat sich die Staatsanwaltschaft in diesem Fall mit dem Mordvorwurf überhoben?

Ich denke schon. Wenn es sich um einen sogenannten Mitnahme-Suizid handelt, der Täter also nicht nur seinem eigen Leben, sondern auch dem seiner Lebensgefährtin ein Ende setzen wollte, wird das üblicherweise als Totschlag qualifiziert, häufig auch als Totschlag in einem minder schweren Fall, wenn die Tat in einem Zustand emotionaler Zerrissenheit geschieht. Eine Mordanklage habe ich in derartigen Fällen noch nicht erlebt.

3. Der Haftrichter hatte nach Angaben des Verteidigers von Otto L. eine zynische Begründung für die vermeintliche Fluchtgefahr gefunden. Der 75-Jährige habe ohnehin schon "mit dem Leben abgeschlossen". Begründet eine Selbstmordabsicht etwa eine Fluchtgefahr?

Das ist vollkommen absurd, so etwas können sich tatsächlich nur Juristen ausdenken. Aber: Im Staate des Grundgesetzes gibt es keine Rechtspflicht, am Leben zu bleiben. Der Freitod ist keine Pflichtverletzung gegenüber der Strafjustiz. Flucht im Verständnis des Gesetzes meint nicht die Flucht im übertragenen Sinne, also die Flucht aus der Verantwortung, sondern ist ganz wörtlich zu nehmen: die Bewegung einer immer noch lebenden Person von einem Ort zum anderen, um sich so dem Verfahren zu entziehen.

4. Gehört ein selbstmordgefährdeter, alter und verzweifelter Mann denn überhaupt in Untersuchungshaft?

Das hängt von den Ärzten ab, die ihn einschätzen. Allerdings ist eine Unterbringung in der Sicherungshaft anstelle der Untersuchungshaft nur unter eingeschränkten Bedingungen möglich.

5. Welche Maßnahmen werden ergriffen, um Suizidgefährdete in der U-Haft vor sich selbst zu schützen?

Die meisten Häftlinge, die Selbstmord begehen, erhängen sich. Wer wirklich den Willen hat, sich umzubringen, der schafft es auch. Es gibt indes Möglichkeiten der fortgesetzten Beobachtung durch die Justizangestellten, da wird bei sensiblen Personen zum Beispiel mal öfter durchs Zellen-Guckloch geschaut. Abgesehen davon: 23 Stunden am Tag eingeschlossen zu sein, dazwischen nur eine Stunde Hofgang, ist natürlich für so einen alten Menschen extrem problematisch.