Jungen sind schlechter in der Schule und häufiger krank als Mädchen. Die gesellschaftlichen Anforderungen haben sich verändert.

Keine Katze war vor ihm sicher und kein fremdes Kanu. Er rotzte in die Hand, schwänzte die Schule, schlich sich nachts auf Friedhöfe und rauchte heimlich. Er überstand Mutproben, Mordsangst und die Masern.

Wir haben Tom Sawyer nicht zufällig einen Platz in unserer Erinnerung reserviert, dem letzten Zufluchtsort für das spontane, kreative, ungezähmte, ständig forschende Kind, das es einmal gab. Natürlich ist ein Jungenleben wie in den 1840erJahren am Mississippi, im wilden Grenzgebiet der jungen amerikanischen Zivilisation, heute Geschichte. Heute wachsen Jungen in einer postmodernen, hoch organisierten Leistungsgesellschaft auf. Haben theoretisch alle Chancen. Aber entweder passen die Chancen nicht zu den Jungen oder die Jungen nicht zu den Chancen.

"Die Jungenkatastrophe", "Jungen in der Krise" lauten nur zwei Buchtitel aus jüngster Zeit. An allen Ecken und Enden fördert die Gender-Forschung Unterschiede zutage, in Kitas, beim Lernen, in den Familien, in der Medizin, und meist zuungunsten der Jungen.

Nach der bundesweiten Studie KiGGS (Kinder- und Jugendgesundheits-Survey) sind Jungen im Kindesalter deutlich krankheitsanfälliger als Mädchen: Sie leiden häufiger unter Atemwegserkrankungen wie Bronchitis und Pseudokrupp, unter Stottern und Tics. Sie haben häufiger Sprachstörungen und motorische Probleme. Jungen stellen drei Viertel der unter 13-Jährigen, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt werden, stellten die Referenten auf dem Symposium "Jungs, das vernachlässigte Geschlecht?" kürzlich in München fest.

Die größte Besorgnis aber lösten Schulleistungsstudien wie PISA und KESS (Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern) aus. Sie belegen, dass die Mädchen die Jungen abhängen. In Lesekompetenz und Rechtschreibung sind Mädchen weit voraus, in Deutsch und Englisch halten sie seit Längerem einen Vorsprung, jetzt haben sie auch zur letzten Bastion der Jungen aufgeholt: Mathematik und Naturwissenschaften.

Nimmt man noch die Jugendkriminalstatistik hinzu, nach der etwa drei Viertel der Jugendstraftaten von Jungen begangen werden, können die Eltern eines Sohnes heute leicht den Eindruck gewinnen, dass sie ein wandelndes Risiko aufziehen.

Noch nie gab es so viele Studien über den Geschlechtervergleich in Verhalten, Entwicklung und Störungen. Und es verdichtet sich der Eindruck: An der Wahrnehmung von Jungen stimmt grundsätzlich etwas nicht mehr.

Das männliche Gehirn kann anfangs noch nicht in die Zukunft denken

Ein großer Teil der Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter seien "gesellschaftlich bedingt. Sie treten da auf, wo Jungen keine Jungen sein dürfen", sagt der Kinder- und Jugendarzt Dr. Klaus Skrodzki, einer der renommiertesten deutschen Experten für die Aufmerksamkeits-Defizit-Störung ADHS. "Man stellt Forderungen an Jungen, die mädchentypisch sind. Und so funktioniert es nicht."

"Jungen wollen nicht absichtlich Schwierigkeiten machen. Ihr Gehirn ist schlicht und einfach noch nicht so 'verdrahtet', dass es viel über die Zukunft nachdenken kann", sagt die amerikanische Neuropsychiaterin Louann Brizendine in ihrem neuen Buch "Das männliche Gehirn", in dem sie die jüngsten Ergebnisse der Hormon- und Verhaltensforschung zusammenträgt. Aber ein Junge ist mehr als die Summe seiner Gene und Hormone. "Wir wissen nicht genau, was zur normalen Biologie von Jungen gehört", sagt Brizendine. Was nichts anderes bedeutet als: Wir wissen nicht genau, was zur normalen Bandbreite von Jungenverhalten gehört. Es gibt ja nicht nur Raufbolde und Rebellen, sondern auch Grübler und Träumer. Es gibt die Schweigsamen, die auf einer Radtour mit zehn Sätzen pro Woche auskommen, von denen einer lautet: "Wann gibt's Essen?"

Aber Brizendine betont einen Aspekt, der die Amerikaner genauso beunruhigt wie die Europäer: "The boys have fallen behind", titelte die "New York Times", die Jungen sind zurückgefallen. "Alle Aspekte unseres Schulsystems stehen dem abenteuerlustigen, nach Freiheit strebenden Gehirn von Jungen diametral entgegen", sagt Brizendine. Jungs sollen aussehen wie Jungs, mit Papa Wii und Fußball spielen und mit Opa Formel 1 gucken. Aber lernen sollen sie wie Mädchen.

Kommt die Art, wie Schule und Lernen organisiert sind, den Mädchen mehr entgegen als den Jungen? "Eindeutig ja", sagt Jan Baier, Direktor der Rudolf-Roß-Gesamtschule in der Hamburger Neustadt. Zwar liege der Leistungsunterschied zwischen Mädchen und Jungen an seiner Schule "noch nicht so signifikant auf dem Tisch, dass man feststellen könnte: Die Mädchen funktionieren, die Jungen nicht", sagt er. Aber offenbar falle es den Mädchen leichter, "sich in die Verfahrensweisen und Anforderungen, vor allem in das Sozialsystem des Unterrichts besser einzufügen". Das Problem, meint Baier, fängt schon vor der Schule an.

Die Stadt von heute ist nicht die Stadt der Jungs. Hauseingänge mit Sicherheitsschlössern und Gegensprechanlagen. Zäune, Alarmanlagen und Videokameras. Noch der letzte Quadratmeter ist verplant und gestaltet. Das gilt auch für die Quadratmeter, die Kindern zugestanden werden. Spielplätze werden in der Regel "möbliert", ohne dass ihre Nutzer - Kinder und Jugendliche - mitreden können.

"Was an motorischer und psychomotorischer Entwicklung früher leicht möglich war - nicht durch Angebote, sondern einfach im Spiel - , das ist zum größten Teil weggefallen", sagt Jan Baier. Wo sind die alten Keller, Schuppen, Höhlen im Gebüsch geblieben, die Baumhütten, die elternfreien Zufluchtsorte, wo man sich mit einem Taschenmesser verewigte, Heimlichkeiten austauschte und Schätze hortete?

Taschenmesser?!?

Das kostbare Einzelkind ist heute umraunt vom warnenden Chor der Mütter, Väter, Betreuerinnen und wird mit dem Auto von Termin zu Termin gefahren. Ein Vater eines Siebenjährigen gibt zu: "Ich muss mir Mühe geben, ihn nicht wie eine Glucke von allem abzuhalten, sondern ihn auch mal auf eine Leiter steigen zu lassen."

"Die Möglichkeiten, Abenteuer zu erleben, sind verdammt rar geworden", sagt Jan Baier, und fast hört man ihn innerlich seufzen. "Was Jungen tun, steht unter argwöhnischer Beobachtung von Erwachsenen. Da muss man sich nicht wundern, wenn Jungs an den obskursten Stellen einen Ausgleich suchen."

Männer sind in Kitas und Schulen dramatisch unterrepräsentiert

An der Rudolf-Ross-Gesamtschule gibt es nicht nur einen Raum nur für Mädchen, sondern seit einigen Jahren auch einen nur für Jungs. Sie können ihn in den großen Pausen für Spiele, für Gruppen oder zum Schlafen benutzen. Auf dem Hof dahinter gibt es einen Garten, den sie selbst angelegt haben, mit einem Kräuterbeet. Einer der beiden Sozialarbeiter, die sich um die Jungs kümmern, ist Ayhan Tasdemir. "Sie wollten einen Garten haben", sagt er.

Was Jungen immer wieder interessiere, sei Körperlichkeit, sagt Tasdemir: "Sie fragen sich, was ist erlaubt, was nicht? Körperkontakte untereinander sind für sie ein Bedürfnis, beim Sport auch okay. Aber weiche, sanfte sind für sie ein Tabu. Das beschäftigt sie." Die Gefühlswelt von Jungen ist nach seiner Ansicht viel zu wenig Thema in der Schule. Was sind Solidarität, Vertrauen, Angst? "Wenn ein Junge mit emotionalen Problemen in die Schule kommt, kann er nicht mithalten, wenn in erster Linie Lernpflicht und Konzentration gefordert sind. Das emotional-soziale Lernen, die Kompetenz in der Klasse oder Gruppe, das müsste viel stärker begleitet werden."

Seit vielen Jahren ist bekannt, dass die Wachstumskurven von Mädchen und Jungen nicht übereinstimmen. Mädchen erleben den wichtigsten Schub im Alter von zehn bis zwölf Jahren, Jungen im Alter von zwölf bis 16. Es ist mehr als nur eine körperliche Veränderung. Es ist die Zeit, in der Jungen beginnen, sich mit einer männlichen Identität auseinanderzusetzen, sowohl sexuell wie mental.

"Jungen möchten authentisch, kompetent und normal wirken", sagt Gunter Neubauer vom sozialwissenschaftlichen Institut Tübingen. "Eine männliche Identität entwickelt sich von selbst, ohne Reden und Pädagogik. Aber die Frage 'Was für ein Mann will ich werden?' stellt sich für jeden Jungen anders. 'Männlichkeit' ist kulturell geprägt, genauso wie 'Mütterlichkeit'."

Den meisten Jungen fällt es schwer, Beziehungen zu Mädchen zu knüpfen. Oder, noch schwerer, zu Jungen, falls das ihre Präferenz ist. Sie kommen nicht als Draufgänger auf die Welt, aber eine Flut von TV-Filmen, Werbung, Computerspielen suggeriert ihnen: Wenn du Biss hast, wettbewerbsorientiert bist, kämpferisch bist, dann liegst du richtig.

In der Gesellschaft dagegen weht der Wind in eine andere Richtung: "Was wir seit den 1970er-Jahren erlebt haben, ist eine beispiellose Entwertung traditioneller männlicher Umgangsformen", sagt der Kinder- und Jugendarzt Dr. Bernhard Stier. Das liegt auch daran, dass Männer in Kitas und Schulen bis zur Mittelstufe dramatisch unterrepräsentiert sind. Wer macht zum Thema, was Männlichkeit sein kann?, fragt Stier. Nicht nur Väter, auch Ärzte, Sozialarbeiter, Jugendpsychologen müssten sich fragen: Was für eine Männlichkeit repräsentiere ich? Welche Botschaften vermittle ich den Jungen?

"Früher wuchsen Jungen in ihre Männerrolle hinein, indem sie das abguckten, was ihnen Väter oder Onkel vorlebten", sagt die Hormonforscherin Louann Brizendine, selbst Mutter eines 15-jährigen Sohnes. "Aber die Art, wie wir unser Leben strukturieren, hat sich ja geändert. Wir trennen strikt zwischen Arbeit, Schulleben und Familienleben. Heute schicken wir keinen Jungen mit dem Vater ins Büro. Der Junge wächst nicht mehr automatisch in eine bestimmte Männerwelt hinein. Es ist ein Mysterium für ihn, in was er hineinwachsen soll."

Oft ist es auch ein Mysterium für die Väter. Welche Orientierungshilfen sollen sie ihren Söhnen geben? Der Arbeitsmarkt hat sich seit den 70er-Jahren grundlegend verändert und mit ihm die Definition, was "männliche" Arbeit ausmacht: Physische Kraft wird für immer weniger Berufe wichtig. Es kommt auf technologische, arbeitsorganisatorische, psychologische Kompetenzen an. Also auf Qualifikationen, die auch Frauen problemlos erwerben. Deshalb ist es heute nicht mehr so klar wie vor 30 Jahren, wer in der Familie der Verdiener ist.

Zwar habe das Leitbild des Brotverdieners weiterhin hohe Priorität für junge Männer, sagt der Kölner Soziologe Dr. Thomas Gesterkamp, und ebenso das Leitbild des "global leaders" - des Chefs an der Spitze von Firmenhierarchien, Fußballvereinen, Filmfirmen oder einer Regierung.

Aber für eine wachsende Gruppe von Männern sind solche Ziele unerreichbar geworden. Selbst Mittelständler kämpfen gegen soziale Deklassierung. Früher hatten auch schlecht ausgebildete Männer in Fabrikjobs die Möglichkeit, vom aufmüpfigen Teenager zum ehrbaren Familienvater aufzusteigen. Heute sorgen sich sogar junge Wirtschaftsjuristen, Journalisten oder Grafiker, ob und wann sie den nächsten befristeten Arbeitsvertrag ergattern.

Der gewachsene gesellschaftliche Druck trifft Jungen heute dreifach: Schule und Unterricht sind nicht darauf ausgelegt, gerade Jungen zum Erfolg zu verhelfen; da sprechen KESS und PISA eine deutliche Sprache. Gleichzeitig sollen Jungen aber eine befriedigende und sozialverträgliche Männlichkeit entwickeln; und drittens sollen sie beruflich so erfolgreich werden, dass sie den familiären Status halten.

Und all das im Selbstversuch?

Was aus Tom Sawyer wurde, wissen wir nicht. Sein Schöpfer Mark Twain wurde Steuermann auf einem Mississippidampfer, Goldgräber, Journalist und Buchautor. Als Geschäftsmann war er weniger erfolgreich. Aber er hatte ein ausgefülltes Leben. Ein Zitat von ihm lautet: "Menschen mit einer neuen Idee gelten so lange als Spinner, bis sich die Sache durchgesetzt hat." Das wäre kein schlechter Wahlspruch für eine neue Jungen-Pädagogik.