Mann tötet junge Mutter und wird mangels Beweisen freigesprochen. Jahre später, als DNA-Tests möglich sind, steht fest: Er war es.

Der Morgen des 10. Dezember 1993 verlief wie die meisten im Familienleben der Butzelars: Er kam von der Nachtschicht bei Mercedes nach Hause, sie musste in die Videothek zum Arbeiten. "Wir haben noch gekuschelt", sagt Jens Butzelar, dann brach sie auf.

Am späten Vormittag riss das Telefon Jens Butzelar aus dem Schlaf. Ein Arbeitskollege war dran: "Jens, du musst mal bei Andrea anrufen. Vor der Videothek ist Tumult. Da steht ein Rettungswagen." Jens Butzelar rief an. Ein Mann hob ab. "Ich möchte mit Andrea sprechen", sagte Butzelar. "Das geht nicht." - "Warum nicht?" - "Bleiben Sie zu Hause. Es kommen zwei Kollegen vorbei."

Als Jens Butzelar die beiden Polizisten vor seiner Haustür sah, sagte er: "Andrea ist tot." Die Beamten nickten.

Jens Butzelar glaubte an die Polizei und die Justiz: Sie würden Andreas Mörder finden, ihn vor Gericht stellen und ins Gefängnis bringen. Und sie fanden ihn, und sie stellten ihn vor Gericht. Aber dann sprachen sie ihn frei.

Und so setzte Jens Butzelar zuletzt seine Hoffnungen in die Politiker. Sie wollten ihm helfen. Hatten sie gesagt.

Jens Butzelar, der athletische Mann mit den stechend blauen Augen, wirkt fremd in seinem eigenen Wohnzimmer: Sein Vormieter hat das Zimmer im orientalischen Stil gestaltet. Jens Butzelar, der Werkzeugmacher gelernt hat, passt irgendwie nicht in ein Zimmer mit verspieltem Stuck. So wie der 46-jährige Rheinländer überhaupt hier in der niedersächsischen Provinz etwas fremd wirkt. Jens Butzelar wohnt seit sechs Jahren in der Gemeinde Hatten bei Oldenburg, wo die Leute plattdeutsch sprechen. Er wollte weg von Düsseldorf, weg aus der Wohnung, die ihn nur an Andrea erinnerte. Weg von seinem früheren Leben. Jens Butzelar wollte neu anfangen. Das ist ihm nicht gelungen.

Seine Frau Andrea hatte er kennengelernt, da war er 19 und Andrea 17. Drei Jahre später heirateten die beiden, kurz darauf kam der erste von drei Söhnen. Andrea blieb zunächst zu Hause bei den Jungs. Dann, als die Familie in eine größere Wohnung zog, nahm auch sie einen Job an, in einer Videothek. Er arbeitete in Dauernachtschicht. Wenn er morgens um sieben nach Hause kam, machte er seinen drei Söhnen - damals ein, fünf und sieben Jahre alt - Frühstück, brachte sie zum Kindergarten oder zur Schule, holte sie wieder ab, spielte mit ihnen, brachte sie ins Bett. Um 23 Uhr fing seine Schicht wieder an. Er wollte seiner Familie etwas bieten: eine große Wohnung, einen Caravan für den Urlaub, eine Blaupunkt-Kamera.

Andrea Butzelar wurde erstickt. Ihr Mörder hatte ihr eine weiße Plastiktüte über den Kopf gezogen, Hände und Füße mit Paketklebeband gefesselt und dann das Band auch um ihren Kopf gewickelt. 30 Meter, bis sie erstickte. Der Mörder nahm sich 650 Mark aus der Kasse, rannte in das Hinterzimmer, öffnete das Fenster und sprang drei Meter hinunter in den Innenhof. Und war weg.

Erst fast zwei Jahre später präsentierte die Düsseldorfer Polizei den mutmaßlichen Täter: Werner P., damals 34, verheiratet, ein Kind. Er war Kunde der Videothek, trug Schuhe mit einem Muster, das am Tatort identifiziert worden war, besaß eine Jacke, deren Fasern mit den in der Videothek gefundenen übereinstimmten. Und: Er hatte sich in der Klinik behandeln lassen müssen, weil er sich den Knöchel gebrochen hatte. Werner P. bestritt alles. Er sei beim Duschen ausgerutscht, sagte er, und zur Tatzeit habe er geschlafen.

Der Indizienprozess gegen Werner P. begann 1996 und endete 1997 mit einem Freispruch. Die Beweise reichten nicht aus. P., der 15 Monate in Haft gesessen hatte, bekam über 80 000 Mark Schadenersatz zugesprochen.

Zu jener Zeit entwickelten Wissenschaftler die DNA-Technik immer weiter, und die Behörden überprüften nach und nach Kriminalfälle, die nicht aufgeklärt waren. 2006 untersuchte die Düsseldorfer Polizei das Klebeband, mit dem Andrea Butzelar erstickt worden war. Plötzlich fanden die Ermittler neben ihrer DNA noch eine andere: die von Werner P. Für das Rechtsempfinden ist klar: Werner P. gehört erneut vor Gericht und wird verurteilt.

Doch der Fall Butzelar sollt sich als einer jener erweisen, in denen Rechtsempfinden und Rechtslage nicht übereinstimmen. Im Grundgesetz heißt es unter Artikel 103, Absatz 3: "Niemand darf wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden." Wer rechtskräftig durch ein Urteil freigesprochen wurde, darf nicht erneut wegen derselben Tat vor Gericht. Hätten die Staatsanwälte damals auf eine Anklage verzichtet, dann hätten sie aufgrund der DNA-Beweise Werner P. vor Gericht stellen können.

Doch Werner P., der mutmaßliche Mörder von Andrea Butzelar, blieb auf freiem Fuß und konnte die 80 000 Mark Schmerzensgeld ausgeben.

Als Werner P. vor Gericht 1997 freigesprochen worden war, hatte auch Jens Butzelar geglaubt, dass P. nicht der Täter war. Mord verjährt nicht, wir finden Andreas Mörder, sagte er sich. Er musste sich um seine drei Söhne kümmern. Er erklärte ihnen, dass ihre Mama ermordet wurde. Er tat alles, damit sie in der Schule einigermaßen zurechtkamen. Die Feste wie Weihnachten oder Geburtstag waren das Schlimmste. Einmal, da spielte sein Sohn in der Schule bei einer Theateraufführung einen Hahn. Jens Butzelar weinte während der ganzen Vorstellung, weil seine Andrea sie nicht sehen konnte.

Butzelar ging wieder zur Arbeit, aber er war zu unbeständig. Der Witwer wurde arbeitslos, fing an zu trinken, wollte sich umbringen. Wenn seine Kinder zur Schule gingen, bekam der Vater Angst, sie würden nie wieder zurückkommen. Er konnte die Wohnung nicht mehr ertragen, die er mit Andrea zusammen angemietet hatte. Er zog mit seinen Jungs weg aus Düsseldorf, nach Norddeutschland, hier lernte er auch eine neue Frau kennen.

Doch als die Sache mit der DNA herauskam und die Düsseldorfer Staatsanwälte sagten, Werner P. sei zu 100 Prozent der Täter, konnte Jens Butzelar nicht mehr warten. Er hat kräftige Hände, die zupacken können. Jetzt war die Zeit gekommen, den Tod seiner Andrea zu sühnen. Jens Butzelar wollte Werner P. im Gefängnis wissen, Mord verjährt nicht. Er nahm sich mit Thomas Kämmer einen erfahrenen juristischen Beistand. Der sagte ihm, dass nur eine Gesetzesänderung etwas bringt.

Der Kampf für ein neues Gesetz wurde für Butzelar zur Therapie: Zum ersten Mal sah er sich die vielen Gerichtsakten an, die es zum Mord an seiner Frau gab, er las, wie sie umgebracht worden war und wie sie aussah, als man sie fand. Butzelar und Kämmer schrieben Briefe, an die nordrhein-westfälische Landesregierung, an die Bundesregierung. Die Rückmeldungen waren positiv. Nordrhein-Westfalens damalige Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU) ließ ihre Beamten sogar einen Gesetzentwurf formulieren. Carsten Lüdemann (CDU), damals Hamburger Justizsenator, unterstützte die Initiative. Er sprach von einer "Gerechtigkeitslücke im geltenden Recht".

Der Gesetzentwurf, den NRW im Jahr 2007 in den Bundesrat einbrachte, sieht vor, dass Strafverfahren zuungunsten des Angeklagten wieder aufgenommen werden können, wenn "aufgrund einer neuen wissenschaftlich anerkannten Untersuchungsmethode Beweismittel gewonnen werden können".

Doch über das Gesetz wurde nie abgestimmt: Es scheiterte im vergangenen Jahr in einer Expertenanhörung im Bundestag. Die geladenen Rechtsprofessoren hatten entgegengesetzte Auffassungen.

Dann wurde ein neuer Bundestag gewählt - Jens Butzelar freute sich. Union und FDP schrieben in den Koalitionsvertrag, dass sie ein Wiederaufnahmerecht prüfen wollten. Das war im Frühherbst 2009. Seitdem hat die Bundesregierung nichts in der Sache unternommen. Wohl auch aus Sorge, vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern zu können. Das Ansehen der schwarz-gelben Regierung ist ohnehin schon schlecht, da würde ein blockiertes Gesetz noch mehr Image-Schaden verursachen.

Die FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat, so sagen es Parteifreunde, signalisiert, dass sie Bedenken gegen eine Reform hat. Ihre Bedenken werden von den Experten in ihrem Haus genährt. "Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen", ließ Leutheusser-Schnarrenberger ihren Sprecher ausrichten. Wann das der Fall sein wird, konnte er aber nicht sagen.

Nordrhein-Westfalen hat in diesem April den alten Gesetzentwurf erneut in den Bundesrat eingebracht. Doch das Thema wurde mittlerweile auf unbestimmte Zeit vertagt. Die Länder müssten es erneut aufrufen. "Ich bin mit der Vertagung nicht zufrieden", sagte die inzwischen ehemalige NRW-Justizministerin Müller-Piepenkötter dem Abendblatt. Aus Hamburg bekommt Jens Butzelar schon seit der letzten Bürgerschaftswahl keine Unterstützung mehr. Der grüne Justizsenator Till Steffen ist gegen die Reform, und sein Vorgänger Carsten Lüdemann, der die "Gerechtigkeitslücke" schließen wollte, will sich auf Abendblatt-Anfrage zu dieser Sache nicht äußern.

Werner P., der mutmaßliche Mörder von Andrea Butzelar, starb im vergangenen Jahr an Krebs.

"Dieser Fall Butzelar ist sehr selten. Der normale Bürger kann nicht verstehen, warum eine Gesetzesänderung verfassungswidrig ist", sagt der Jura-Professor Klaus Marxen, der in der Bundestagsanhörung gegen eine Gesetzesreform votiert hatte. Heinz Schöch, sein Professoren-Kollege und damals Befürworter einer Reform, sagt: "Ich rechne damit, dass über das Gesetz noch ernsthaft beraten wird." Dass es beschlossen wird, sagt er nicht.

Butzelars Opfer-Beistand Thomas Kämmer sagt: "Beide Regierungsparteien haben vor der Bundestagswahl ihre volle Unterstützung zugesagt und nach der Wahl nur einen Prüfungsauftrag erteilt. Dabei hat die Prüfung durch die Expertenanhörung im Bundestag bereits stattgefunden. Das ist Wählertäuschung." Kämmer fordert, dass noch dieses Jahr das Gesetzgebungsverfahren in Gang gesetzt wird.

Jens Butzelar durfte damals seine Frau erst nach ein paar Tagen sehen, als die Gerichtsmediziner ihn zu ihr ließen. Sie sah ruhig aus, friedlich, sagt Butzelar. Er gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die kalte Stirn. Die Beisetzung sollte so sein, wie sie es sich gewünscht hätte, wenn sie denn gekonnt hätte, sagt er. Sie wollte immer einen Liebesbrief von ihm. Er sei nicht romantisch genug, hatte er immer abgewehrt. Jetzt schrieb er ihr einen. Er hat ihn so geschrieben, als ob sie noch lebt. "Wenn man sich trennt, vermisst man sich. Aber wenn es so endgültig ist, ist der Schmerz nicht auszuhalten", schrieb er. Und er versprach ihr, dass er die Kinder weiter in ihrem Sinne großziehen wollte. Sie sollten wie die Eltern Gewalt hassen. Andrea hatte mal gesagt, dass sie das Lied "Für dich soll's rote Rosen regnen" so gern mochte. Also ließ Butzelar den Organisten in der Kirche das Lied spielen. Und als er später an ihrem Grab stand, ließ er rosarote Rosen hineinregnen.

Als Werner P. starb, hatte Jens Butzelar "erst mal Luft im Kopf". "Ich habe gedacht: Das haben die Politiker jetzt davon." Es war ein schreckliches Gefühl, dass ein Mörder frei herumläuft. Dessen Krebstod kann Jens Butzelar nicht als göttliche Strafe sehen. Jetzt ist ein neues Gesetz seine Hoffnung. "Das bringt mir jetzt nichts mehr. Aber vielleicht anderen. Und für mich ist das dann ein Abschluss."