Mit einem Schnitt von 1,9 bestand Raman Goswami aus Wandsbek die Hochschulreife. “Eigentlich wollte ich es nur schaffen“, sagt er.

St. Pauli. Mathe hatte es dann doch in sich. "Exponentialfunktionen sind drangekommen und Kosten-Gewinn-Analyse", sagt Raman Goswami. Den Todeszeitpunkt einer Leiche sollte er unter anderem bestimmen. Was vielen anderen Schweißperlen auf die Stirn treiben würde, entlockt ihm ein kleines Grinsen. "Ist gut gelaufen", sagt der Abiturient am Wirtschaftsgymnasium St. Pauli. "13 Punkte." Klar ist er stolz. Auch bei den schriftlichen Prüfungen hat er gut abgeschnitten. "Mein Abi-Schnitt liegt bei 1,9", sagt der Deutsch-Afghane. Der ist besser als bei vielen anderen, für ihn ist es aber noch viel mehr. Denn Raman Goswami ist blind.

"Eigentlich wollte ich es nur schaffen", sagt er. Ein richtiges Abitur, nicht wie die anderen ein Fachabitur an der Handelsschule für Blinde und Sehbehinderte. Nach dem Realschulabschluss hat Raman Goswami sein Leben selbst in die Hand genommen. "Ich habe zwölf Schulen abtelefoniert und erst einmal nur Absagen kassiert." Nur das Wirtschaftsgymnasium St. Pauli nahm ihn schließlich auf. "Das war für beide Seiten ein Sprung ins kalte Wasser", sagt er drei Jahre später. Schon am ersten Schultag habe sich das gezeigt. "Die Lehrer hatten an eine Tafel geschrieben, in welche Klasse wir gehören."

Er ist trotzdem in der richtigen Klasse gelandet, mithilfe seiner Mitschüler. Und auch sonst ist er schnell angekommen in seinem neuen Leben unter Sehenden. Mit einer roten Baseball-Kappe auf dem Kopf, im Ohr einen goldenen Stecker, sitzt Goswami in der Kantine des Wirtschaftsgymnasiums vor seinem Laptop. Ohne den und die spezielle Software, die ihm den Bildschirminhalt vorliest, wäre er nicht bis zum Abitur gekommen. Gerade hat er eine Einladung auf dem Schirm. In unglaublicher Geschwindigkeit legt eine männliche Computerstimme los, überschlägt sich fast. "Andere können das kaum verstehen, aber für mich ist alles andere zu langsam", sagt der junge Mann, der genauso schnell hört, wie andere mit den Augen lesen. Fast genauso flink tippt er auch - fehlerfrei. So hat er auch seine Abi-Klausur in seinem Lieblingsfach Deutsch über Schillers Räuber geschrieben und die Geschichtsklausur über die Weimarer Republik - in der gleichen Zeit wie alle anderen. "Übungssache", sagt der 23 Jahre alte Wandsbeker, der als Kleinkind mit seinen Eltern aus Kabul nach Hamburg geflüchtet ist. Er war 13 Jahre alt, ein ganz normaler Siebtklässler an der Gesamtschule Horn, als er plötzlich nicht mehr lesen konnte, was an der Tafel stand. Die Diagnose: Retinitis pigmentosa, eine Augenkrankheit, bei der die Sehkraft nach und nach zurückgeht. Unheilbar. Natürlich sei das ein Schock gewesen, sagt Goswami, der inzwischen nahezu blind ist. Aber er sei nie verzweifelt. Auch weil seine Eltern, seine Schwester und sein Bruder ihn immer unterstützt hätten. "Klar ist es blöd, dass man nichts mehr sieht. Aber es öffnen sich neue Seiten. Man lässt sich nicht mehr von Äußerlichkeiten ablenken und hört viel mehr. Auch Emotionen." Aus der Zeit vor dem Dunkel hat er seine Brille behalten. "Aus Gewohnheit."

Wenn Goswami etwas nicht leiden kann, ist es Mitleid. Er wechselte auf die Blindenschule am Borgwerg, machte seinen Hauptschulabschluss. Besuchte die Handelsschule für Sehbehinderte und Blinde - und wagte den Sprung auf ein Wirtschaftsgymnasium.

"Am Anfang mussten wir uns daran gewöhnen, ihm die Arbeitsblätter und Materialen digital bereitzustellen", sagt sein Klassenlehrer Marcel Timm. In seinem Fach Deutsch sei das kein Problem gewesen. Aber wie vermittelt man grafische Zusammenhänge und Strukturen in Mathe und BWL oder den Aufbau einer Zelle im Biologieunterricht? "Ich hatte eine Assistentin, die mir geholfen und auch schon mal eine Zelle aus Knete, Wachs und Pappe gebastelt hat, damit ich sie fühlen kann", sagt der blinde Schüler. Bei anderen Themen hätten seine Mitschüler geholfen. "Wir haben viel Gruppenarbeit gemacht."

"Es war ein Experiment. Dass es so gut geklappt hat, hat viel mit seiner Persönlichkeit zu tun", sagt Lehrer Timm. "Er hat nie gemeckert, war immer positiv und sehr humorvoll. Das hat auch der Klasse gutgetan."

Dem so Gelobten ist das schon fast zu viel. Eigentlich wolle er nur ein Leben führen wie alle anderen. Mit Freunden feiern, Schlagzeug spielen, Donuts essen. Und er will auf jeden Fall studieren. Psychologie etwa oder Lehramt für Gymnasien. "Aber eins will ich nicht: Sonderpädagoge an einer Blindenschule werden."