Teil 7: Die Sturmflut des Jahres 1962 hat für die Zeitzeugen auch nach 50 Jahren nichts von ihrer Bedeutung verloren. Erinnerungen der Leser.

Als wir Sie im November des vergangenen Jahres baten, uns anlässlich des traurigen Jubiläums der Sturmflut Ihre Erinnerungen zu schicken, hätten wir niemals mit einer solch überwältigenden Reaktion gerechnet.

Hunderte von Zeitzeugen haben Briefe und E-Mails über ihre ganz persönlichen Erlebnisse während der dramatischen Tage des 16. und 17. Februar geschrieben und uns bereitwillig ihre privaten Fotoalben geöffnet. Diese uns anvertrauten Erlebnisse machen es erst möglich, das individuelle Ausmaß dieser Katastrophe für die vielen Beteiligten und Betroffenen überhaupt fassen zu können. Auch heute noch. Dafür gebührt Ihnen an dieser Stelle ein großer Dank. Gleichzeitig möchten wir Sie auch um Ihr Verständnis bitten, dass wir leider nicht alle Beiträge abdrucken können. Wir haben daher versucht, in den vergangenen sechs sowie in der heutigen siebten und letzten Folge unserer Serie eine Auswahl zu treffen, die möglichst alle menschlichen Facetten einer solchen Katastrophe berücksichtigt: den schicksalhaften Verlust von Menschenleben und ihrem Hab und Gut; die Tapferkeit und den Mut Einzelner; die Stärke, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe derjenigen, die sich nicht unterkriegen lassen wollten - und die im Angesicht der tödlichen Gefahr ohne Kompromisse über sich hinauswuchsen. Die folgenden Erinnerungen unserer Leserinnen und Leser wurden zum Teil gekürzt.

Brigitte von Trzebiatowski

Ich feierte zwei Monate zuvor noch den 21. Geburtstag meiner Freundin Edith in der Gartenkolonie Honartsdeicher Weg. Doch dann, am 16. Februar 1962, nahm diese Freundschaft ein tragisches Ende (...) Unsere Familie konnte sich noch rechtzeitig in den ersten Stock unseres Hauses in der Fährstraße retten. Das Wasser trieb Autos und Menschen vor sich her, es war furchtbar. Ich dachte, das ist der Weltuntergang. Ab 2 Uhr blieb der Wasserstand konstant. Mein Freund wohnte mit seinen Eltern und dem Bruder ein paar Häuser weiter. Er konnte sich glücklicherweise auch noch rechtzeitig retten, nur sein Kanarienvogel starb. Doch die ganze Zeit musste ich an meine Freundin denken, die mit ihrer Familie ja direkt an der Deichbruchstelle wohnte. Nach vier oder fünf Tagen konnten wir endlich rüber zum Honartsdeich, in der Hoffnung, dass sie sich haben retten können. Doch dort bekam ich dann die schreckliche Gewissheit, dass sie es alle nicht geschafft hatten."

+++ Familiendrama auf Neßsand +++

+++ Europa blickt auf Hamburg und den Norden: "Wie im Kriege" +++

+++ Lesen Sie morgen +++

+++ Das Wetter am 17.2.1962 +++

+++ Scholz: "Die Katastrophe hat sich eingebrannt in die Seele der Stadt" +++

+++ Das Buch zur Serie +++

+++ Das Hamburger Abendblatt vom 17. Februar 1962 +++

Angela Reincke

Ich lebte mit sieben Jahren als zweitjüngstes Kind von insgesamt neun Kindern im Kleingartenverein Wettern in einem selbst gebauten Behelfshäuschen. Meine älteste Schwester, die schon verheiratet war und ein paar Häuser weiter wohnte, war mit ihrem Mann und der kleinen Tochter auch bei uns, weil sie sich allein nicht sicher fühlten bei dem Sturm. Wir Kinder wurden schon früh zu Bett geschickt, die Männer gingen aus Sorge zum Deich, als ihnen das Wasser bereits entgegenkam. Sie weckten alle Nachbarn, die sich dadurch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Mein kleiner Bruder wurde in einen Handkarren gesetzt, zugedeckt, meine Schwester nahm mich an die Hand, und dann liefen wir alle los in Richtung Wilhelmsburg. Wir flüchteten uns zu Bekannten, doch das Wasser drang auch in deren Erdgeschosswohnung ein. Wir harrten im Treppenhaus aus, bis uns eine Familie von oben in die Wohnung bat. Ich hatte die ganze Zeit geweint. Wir wurden später in einer Schule untergebracht, wo mehrere Familien zusammen in einem Klassenzimmer lebten. Weil wir aber so viele Kinder waren, wurden wir für drei Monate auf mehrere Familien aufgeteilt. Meine Eltern hatten durch die Flut zum zweiten Mal alles verloren. Sie konnten nur noch wenig aus dem Wasser fischen."

Günter Worczinski

Im Februar 1962 war ich Pionier und der Stabskompanie zugeteilt. Als meine Kameraden und ich am 16. Februar schlafen gingen, rechneten wir fest mit einem bevorstehenden Einsatz, da wir Ausgangssperre bekommen hatten. Wie befürchtet, wurden wir nachts um drei vom Alarm geweckt. Ich bekam die Aufgabe, im Versorgungszentrum Friedrich-Ebert-Schule die Flutopfer mit was Essbarem zu versorgen. Mehrere Stunden lang bereitete ich aus Trockenmilch Nahrung für die Kleinen zu. Die nächsten drei Tage musste ich dann rund um die Uhr in der Kaserne alle Informationen über die Schwerpunkte der Sturmflut sammeln und für die Hubschrauberpiloten in die Lagekarten übertragen. Während dieser Zeit war die Kommunikation zu meinen Eltern, die in Bramfeld lebten, völlig abgeschnitten. So erfuhr ich nicht, dass mein Vater in der Nacht zum 18. Februar im Krankenhaus verstorben war."

Heinz Petersen

Ich war Helfer bei der Sanitätsbereitschaft Bezirk Hamburg-Mitte. Wir sind nach Kirchdorf, da sollten wir die Leute aus einer Kleingartensiedlung holen. Wir bekamen eine Einheit mit Schlauchbooten zu Hilfe, suchten jede Laube einzeln ab. In einer fanden wir einen älteren Mann am Küchentisch sitzend, bis zur Brust im Wasser. Wir wollten ihn mitnehmen, doch er weigerte sich: ,Lasst mich hier! Ich will nicht mehr! Erst bin ich ausgebombt, dann aus meiner Heimat vertrieben und jetzt nimmt mir das Wasser alles!' Er schrie es heraus. Doch ich habe mich nicht abweisen lassen und habe auf ihn eingeredet, bis er schließlich mit uns mitkam. Vorher sollten wir noch seinen Kühlschrank hochstellen, obwohl der völlig unter Wasser war. Für uns ging es weiter nach Wilhelmsburg. Später erfuhr ich, dass der ältere Herr wieder zurückgegangen war und in seiner Laube tot aufgefunden wurde. Dies löste bei mir eine tiefe Traurigkeit aus, ich empfand es als die größte Niederlage meines Lebens."

Enno Kleffel

Im Alter von 19 Jahren war er Offiziersanwärter bei der Bundeswehr und kehrte in jener Freitagnacht nach seinem Sporttraining und dem danach folgenden Gaststättenbesuch um 00.30 Uhr in die Böhn-Kaserne in Rahlstedt zurück. "Was sich am südlichen Elbufer inzwischen abspielte, ahnte ich ja nicht. Doch kaum lag ich auf der Stube, ging kurz vor 1 Uhr auch schon der Alarm los. Meine Kompanie rückte binnen weniger Minuten aus. Unser Einsatzort war die Veddel. Dort holten wir die ganze Nacht hindurch Menschen von Dächern und Bäumen runter und brachten sie mit Schlauchbooten in Sicherheit. Ohne Pause wurden wir am nächsten Morgen dann nach Moorfleet verlegt, wo wir noch bis tief in die Nacht Sandsäcke schleppen mussten, um den gebrochenen Deich mit abzudichten."

Edith und Eugen Reeßing

Edith und Eugen Reeßing lebten in der Bonifatiusstraße in Wilhelmsburg. "In dem kleinen Haus hinten auf unserem Grundstück wohnten zwei Gastarbeiter aus Sizilien. Die Flut hatte auch ihr Heim vollkommen unterspült, und so standen sie ängstlich zitternd auf der Fensterbank und wollten nicht ins Wasser springen, um sich dann in Sicherheit begeben zu können. Also ist mein Mann erst mal durchs kalte Wasser und hat sie dort rausgeholt. Wir haben es überstanden, zwei Bekannte von uns, die in den Kleingärten an der Harburger Chaussee lebten, kamen ums Leben. Was uns aber auch besonders aus diesen Tagen in Erinnerung blieb, war die unbändige Hilfsbereitschaft jedermanns."

Dr. Günter Dauck

Drei Jahre haben der Architekt und die Handwerker in und an unserem Haus gearbeitet. Die lange Umbauzeit brauchten wir, weil alles neu gestaltet und installiert werden musste. Neue Röntgengeräte, ein neues Labor und die Behandlungsräume. Am 16. Februar war es gerade fertig geworden. In der Nacht stand das Wasser dann bald 2,50 Meter hoch am Haus. Meine Frau Ingrid, hochschwanger, und ich konnten in letzter Sekunde unseren zweijährigen Sohn Eckart und die Patientenkartei auf festen Grund retten. Wir wurden dann mit dem Hubschrauber nach Blankenese geflogen, wo wir bei meinen Schwiegereltern unterkamen. Dort klingelte kurz nach unserer Ankunft das Telefon. In der Leitung war mein früherer Klinikchef Prof. Dr. Budelmann, der erstaunt in den Hörer prustete: ,Dauck, ich denk, Sie sind tot!' Evakuierte aus Neuenfelde hatten berichtet, dass ,der Doktor untergegangen' sei. Ich bin dann nach Neuenfelde zurück, um die Menschen zu behandeln. Wir haben viel geimpft, auch gegen Typhus, wegen des ganzen toten Viehs. ,Hausbesuche' wurden mit dem Boot erledigt. In die Häuser sind wir über Leitern gestiegen."

Harm Wackers

Ich war Schirrmeister beim THW. Um 18 Uhr hatten wir den ersten Einsatz: Eine Tanne drohte auf die Straße zu fallen, der Sturm war mittlerweile zu einem Orkan geworden. Das war der erste von vielen Bäumen. Um kurz vor vier Uhr morgens hieß es plötzlich: ,Halt - abwarten!' Unser Trupp erfuhr über Polizeifunk von den Deichbrüchen. Mit Blaulicht rasten wir los in Richtung Harburg/Elbbrücken. Dort fuhren wir Sandsäcke an die Deichbrüche und nahmen Flutopfer wieder mit zurück. Am Montag entspannte sich die Lage und wir hatten nur noch rein technische Einsätze auszuführen. Bei einer Fahrt rutschte einer unserer Geländewagen in den Graben und blieb mit 180 Grad Schlagseite liegen. Mit aller Kraft und aus der Not entstandener Kreativität hievte unser Trupp den knapp zehn Tonnen schweren Koloss auf die Straße. Denn wir mussten ja weitermachen, Einsatz um Einsatz fahren, tagelang."

Monika Falk

Als achtjähriges Mädchen lebte sie mit ihrer Familie im Flüchtlingslager Neßpriel. "Am 16. Februar hatte meine Mutter Geburtstag. Onkel und Tante waren zu Besuch, und als sie abends nach Hause fahren wollten, fuhr wegen des Sturms die kleine Barkasse Richtung Teufelsbrück schon nicht mehr. Wir bewohnten ein Zimmer im ersten Stock. Nachts wurden wir von Hilferufen der Bewohner im Parterre geweckt. Mein Bruder konnte über eine günstig umgefallene Straßenlaterne vom Haus rüber auf den Deich klettern und Hilfe holen. Wir wurden nach Stunden voller Angst und Bangen evakuiert. So schlimm dies Ereignis auch war, nach zwei Jahren Wohnzeit im Lager ging danach der Wunsch nach einer eigenen Wohnung in Erfüllung."

Erika Frey

Ich war 21. Ich lebte gemeinsam mit meiner Familie in Köhlbrand-Süd in Waltershof, dort, wo heute die Köhlbrandbrücke steht. "Spät in der Nacht des 16. Februars 1962 rollte etwas über das Dach des kleinen Behelfsheims, und es plätscherte plötzlich überall. Als ich erschreckt aus dem Bett fuhr, war ich bis zu den Knöcheln im Wasser. Draußen stand es schon bis zu den Fenstern. Ich weckte meine Eltern und meine Schwester. Mein Vater, ein kluger und besonnener Mann, konnte uns gerade noch davon abhalten, die Haustür zu öffnen. Er schnappte sich das Beil aus der Speisekammer, stieg auf den Küchentisch und bearbeitete die Küchendecke. Wir sammelten Decken, Rum und Brot zusammen und stiegen durch das Loch in den Kriechboden. Bis zum Morgengrauen war das Wasser schon ein wenig abgelaufen, unser Haus war von innen komplett zerstört. Im Herbst 1962 verließ dann unsere Familie endgültig Waltershof."

Ingrid Nicolaysen

Am Abend des 16. Februar 1962 brachte mich mein damaliger Verlobter nach Hause. Mein Vater sagte zu ihm: "Bei dem Sauwetter kannste in der Wohnküche übernachten." Kurz vor Mitternacht wurde mein Verlobter aus dem Schlaf gerissen. Er schaute raus und sah nichts als Wasser. Sofort weckte er mich und meinen Vater. Der saß dann apathisch auf einem Stuhl, auf den Knien einen kleinen Koffer mit den notwendigsten Papieren haltend. Er sagte: ,Der Deich ist gebrochen. Jetzt ist wieder alles weg. Wir müssen hoch auf den Dachboden.' Dort überstanden wir die Nacht. Später erfuhren wir, dass die Gätjes von nebenan in ihrer Laube ertrunken waren."

Heiner Heinrich

Ich war 18 und Polizeianwärter in der Polizeischule in Alsterdorf. Gegen 2 Uhr mussten wir antreten. Wir fuhren ins Alte Land nach Cranz. So weit das Auge sehen konnte, war um uns herum nur noch Wasser. Die Bundeswehr, das technische Hilfswerk, Feuerwehr und Polizei waren schon vor Ort und holten die Menschen von den Dächern. Wir gingen auf den nicht überfluteten Zwischendeichen Streife, um die Häuser vor Plünderern zu schützen. Während dieser Streifgänge erlebte ich, wie sehr alle zusammenhielten. Es war schwierig, die ganzen Eindrücke zu verarbeiten. Bei der Trauerfeier auf dem Hamburger Rathausmarkt konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten."

Alle Folgen auf einen Blick: