Teil 10 der Abendblatt-Serie: Ernährung. Gemeinsam lernen Kinder am Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Rahlstedt, wie gesundes Kochen gelingt.

Drei Jungs und sechs Mädchen wuseln mit ihren Eltern in der Küche herum. Sie schälen Kartoffeln, braten Fleisch, belegen Brötchen mit Salat. Pizza, Süßkartoffelchips, Hamburger, Wraps, Döner und Auflauf stehen auf der Speisekarte - das hört sich gar nicht nach Abnehmen an. Die Kochstunde gehört jedoch zum einjährigen minusXXL-Programm am Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Rahlstedt.

Einmal die Woche treffen sich übergewichtige Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern und den Trainern. Sie machen Sport und lernen etwas über ihren Körper und Ernährung, zweimal steht auch Kochen auf dem Stundenplan.

"Fastfood zu Slowfood" - so der Tenor. "Es geht nicht darum, den Familien das Kochen beizubringen", sagt die Ernährungswissenschaftlerin Anke Lepanto. Aber sie sollen Ideen bekommen, wie Lieblingsgerichte so zubereitet werden können, dass sie ausgewogen sind - und trotzdem schmecken. Auf der Pizza liegen wenige Salamischeiben, aber dafür viel Gemüse; der Auflauf wird mit einer fettarmen Frischkäsecreme und nicht mit Käsesahnesauce überbacken; die Frikadellen auf dem Hamburger enthalten pro Portion nur 40 Gramm Fleisch.


+++Die große Abendblatt-Gesundheits-Serie+++

Eine Studie bestätigte 2006 die Beobachtung, dass der Anteil der dicken Kinder in Deutschland gestiegen war. Zwar waren 85 Prozent der Kinder zwischen drei bis 17 Jahren nicht zu dick. Dennoch: In Deutschland lebten immerhin etwa 1,9 Millionen übergewichtige Kinder und Jugendliche, davon waren 800 000 fettleibig (adipös). Auf Basis der Daten von 1985 bis 1999 hatte sich die Zahl der Fettleibigen verdoppelt, die Studie wird derzeit aktualisiert.

Marita Lohmann,10, hilft den Jungs Elham und Levin inzwischen beim Pizzamachen. Vorher hat sie mit Erden zusammen Süßkartoffelchips zubereitet. Seit November 2010 kommt sie regelmäßig mit ihrer Mutter zum Wilhelmstift. Maritas Diagnose: Adipositas.

"Du bist tapfer dabei", sagte die Ärztin Andrea Bielstein, als sie Marita in der Sprechstunde gewogen hat. Während bei Erwachsenen das Gewicht eher ein Hinweis für den Abnehmerfolg sein kann, ist dies bei Kindern nicht so einfach zu berechnen. "Sie wachsen ja noch, die Abnahme an Fettgewebe wird durch das Mehr an Knochen und Muskeln häufig wieder ausgeglichen", sagt Bielstein. Entscheidend ist nicht allein, wie viel Kilo ein Kind auf die Waage bringt, sondern auch sein Alter und seine Größe. Deshalb richten sich die Mediziner eher nach sogenannten Perzentilen, also Vergleichswerten, und berechnen den Body-Mass-Index (Erklärungen siehe Glossar).

Beim ersten Termin war Marita 1,48 Meter groß und wog 58,8 Kilo. Zwei Tage wurde sie durchgecheckt, ob eine ernsthafte Erkrankung (etwa des Hormonsystems) hinter dem Übergewicht steckt. Das ist bei ein bis zwei Prozent der Fälle so, aber nicht bei Marita. Außerdem suchten die Ärzte nach Begleiterkrankungen. "Übergewichtige haben ja ein höheres Risiko für Typ-2-Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Herzinfarkte und Bluthochdruck", sagt Bielstein. "Ein Viertel von ihnen bekommt psychische Leiden, die Menschen geraten in die Isolation, finden keinen Job - diese Faktoren wiegen genauso viel wie die körperlichen Risiken, wir sollten also so früh wie möglich helfen."

Warum isst das Kind zu viel? Bevor ein Ernährungsplan erstellt wird, fragt das Team nach den möglichen Ursachen für das häufig übermäßige Essen. "Ich kann nicht am Gewicht arbeiten, wenn ich den Grund für das Essen nicht kenne", sagt Bielstein. Stecken Frust und der Wunsch nach Belohnung dahinter? Langeweile? Oder ein mangelndes Sättigungsgefühl, weil das Kind von Anfang an große Portionen gewohnt ist? Bei Marita hatte sich das Problem über die Jahre eingeschlichen, ein Schicksalsschlag in der Familie war der Auslöser.

Das Gemeine: Maritas Schwester kann sehr viel essen - und hält ihr Normalgewicht. "Ja, das ist so, das liegt einfach an der vererbten Konstitution", sagt Bielstein. Ihre Mutter unterstützt Marita aus vollem Herzen. "Das ist wichtig - ohne die Hilfe der Eltern können wir hier nichts ausrichten."

Als Grund für die Zunahme an dicken Kindern sieht Bielstein, dass sich die Wahrnehmung in der Gesellschaft verändert hat, was eine angemessene Portion ist. "Das gilt für die Mahlzeiten der Erwachsenen genauso wie für die der Kinder - viele von ihnen bekommen genauso viel auf den Teller wie ihre Eltern." Als Orientierung nennt Bielstein die aid-Ernährungspyramide. Jede Portion Gemüse, Kartoffeln oder Fleisch sollte so groß sein, dass sie in die eigene Hand passt. "Kinder sollen beim Abnehmen nicht Kalorien zählen, sondern ein Gefühl für die Portionsgrößen bekommen."

Die richtige Ernährung spielt nicht nur beim Abnehmen eine Rolle - sondern auch bei Krankheiten. "Dazu gehören unter anderem Mukoviszidose, Diabetes, Nahrungsmittelallergien, Gedeihstörungen, Darmerkrankungen oder Zöliakie", sagt Birgit Schäfer, Ernährungswissenschaftlerin am Altonaer Kinderkrankenhaus. Sie führt Einzelgespräche mit den Kindern und ihren Eltern, gibt Schulungen auf der Diabetes-Station und erstellt Diät- beziehungsweise Ernährungspläne.

Inzwischen ist Marita 1,57 Meter groß, sie wiegt 63 Kilogramm. Ihr BMI ist niedriger als zu Beginn des Programms, sie kann stolz sein. Ihren Mittagessenteller teilt sie in zwei Hälften. "Die eine Hälfte enthält Gemüse oder Salat, die andere zur Hälfte Fleisch, Fisch oder Ei, und der Rest Beilagen wie Kartoffeln, Nudeln, Reis", sagt sie. Weihnachten ist noch nicht allzu lange her, an manchen Schmalzkuchen konnte sie nicht vorbeigehen, darüber ist sie ein bisschen unglücklich. "Süßigkeiten sind nicht generell verboten. Es kommt halt darauf an, wie viel man davon isst", sagt ihre Ärztin ermutigend.

Bereits mit fünf Jahren war Marita auf dem Weg zum Übergewicht. "Das ist ein entscheidendes Alter", sagt Bielstein. "Säuglinge sind ja eher moppelig, bei Vierjährigen sollte man fast die Rippen zählen können, bis zum Alter von fünf oder sechs sollte der BMI runtergehen, das gibt auf der Perzentile so eine Delle." Sei dies nicht der Fall, dann könne dies ein erstes Warnzeichen für die Entwicklung von Übergewicht sein, und die Eltern sollten darauf achten. "Mehr Bewegung hilft, Eltern sollten die Kinder ruhig einen Termin die Woche mehr zumuten, wenn es um sportliche Aktivitäten geht. Außerdem sollten sie einen großen Bogen um angebliche Lebensmittel für Kinder machen." Dazu gehören bestimmte Getränke, süße Schokoriegel oder Joghurts. "Die haben viele Kalorien, geben kurzfristig Energie, machen aber nicht satt." Wichtig sei auch, dass die Kinder ausreichend schlafen. "Erst bei längerem Schlafen wird das Fett im Körper abgebaut."