Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Carola Bindt spricht über Symptome und Therapiemöglichkeiten von Essstörungen.

Diäten bestimmen nicht selten das Leben von Mädchen in der Pubertät. Doch führt dies auch zu einem Anstieg der krankhaften Essstörungen wie Magersucht (Anorexie) und Bulimie (Ess-Brech-Sucht)? "Nein", sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Carola Bindt, stellvertretende Ärztliche Direktorin der Abteilung für Kinderpsychosomatik am UKE und im Altonaer Kinderkrankenhaus. Doch sind solche Störungen sehr ernst zu nehmen. Sie können auf Dauer die psychische Entwicklung und die Organe schädigen.

Hamburger Abendblatt: Was wissen Sie über die Ursachen von Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie?

Carola Bindt:

Die Ursachen sind bei beiden Erkrankungen sehr komplex. Es gibt nicht nur die eine Ursache, wohl aber familiäre Umstände und Persönlichkeitsstrukturen, die immer wieder eine Rolle spielen. In Familien mit anorektischen Mädchen gibt es häufig einen hohen Leistungsanspruch, und Perfektionismus als Eigenschaft wird unterstützt, der Umgang mit Konflikten ist eher schwierig. Jugendliche mit Bulimie haben häufig ein schlechtes Selbstwertgefühl und wenig Durchsetzungskraft, sie wollen aber mithalten können und sind angespannt. Diese Anspannung versuchen sie durch Essen zu regulieren. Oft werden Kinder mit Essstörungen auch gelobt, wenn sie nach einer etwas moppeligen Phase abgenommen haben. Solch eine Phase haben nicht wenige Kinder vor oder in der Pubertät. Aber es ist ganz wichtig: Wir können hier nicht verallgemeinern.

Wie häufig sind solche Essstörungen, und für welches Alter sind sie typisch?

Eine Magersucht trifft vor allem Mädchen, auf zwölf erkrankte Mädchen kommt ein Junge. Der Altersgipfel liegt bei den 14- bis 15-Jährigen, die Anorexie kann aber auch schon mit zehn oder elf Jahren auftreten. Die Häufigkeit liegt bei maximal einem Prozent der Bevölkerung, eher niedriger. Die Bulimie ist häufiger, trifft auch mehr Jungs, und kommt vor allem bei Jugendlichen ab dem Alter von 16 Jahren vor. Die Häufigkeit beträgt etwa 0,8 bis drei Prozent.

Woran erkenne ich, dass mein Kind eine Essstörung hat?

Eine Bulimie mitsamt Ess- und Brechattacken wird von den Betroffenen als sehr schambesetzt empfunden. Sie versuchen, die Sucht zu verbergen, und geraten in einen Teufelskreis, weil sie sich sowohl nach dem Essen als auch nach dem Erbrechen schuldig fühlen. Häufig halten sie ihr Gewicht und fallen dadurch nicht so auf wie Magersüchtige. Sie nehmen am Essen teil und verstecken sich hinterher in der Toilette zum Erbrechen. Meist essen die Jugendlichen aber heimlich, den Eltern fällt dann auf, dass Lebensmittel verschwunden sind. Kinder mit Anorexie fallen eher durch die Gewichtsabnahme auf, sie lassen Mahlzeiten aus, treiben mehr Sport als vorher, finden Verschleierungstaktiken dafür, warum sie nicht mitessen. Auffällig kann sein, wenn Leibspeisen gemieden werden. Wir sind immer wieder erstaunt, wie lange Eltern mit magersüchtigen Kindern warten, bis sie zum Arzt kommen, obwohl die Kinder schon deutlich untergewichtig sind.

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es, und wie lange dauert eine Behandlung?

Die Behandlung einer Magersucht kann viele Jahre dauern. Oft wird mit einer stationären Behandlung angefangen, damit die Kinder und Jugendlichen überhaupt wieder einen Essrhythmus bekommen. Meist ist der Widerstand groß, da ist der Therapiestart außerhalb der Familie oft leichter. Bei anorektischen Menschen stimmt die eigene Körperwahrnehmung nicht mit der Wahrnehmung durch andere überein, sie empfinden sich immer noch als zu dick. Erstaunlicherweise bessert sich diese Fehlwahrnehmung, wenn sie an Gewicht zugenommen haben, die genauen Prozesse im Gehirn sind noch nicht geklärt. Jugendliche mit Bulimie müssen nur in extremen Fällen stationär behandelt werden, wenn das Gewicht ständig schwankt oder mehrmals täglich Erbrechen auftritt. In der Behandlung sind verschiedene Verfahren wie Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologische Psychotherapie wirksam, die Familie wird meist einbezogen.