Handgefertigte Produkte werden von Kunden verstärkt nachgefragt. Auch große Konzerne bieten über das Baukastenprinzip individuelle Lösungen.

Hamburg. Wenn Marc Anthony seine Kunden berät, nimmt er sich Zeit. Auch mehrere Stunden, wenn nötig. "Manchmal wissen die Leute aber von vornherein genau, was sie wollen", sagt der 46-Jährige. "Dann dauert es nur 20 Minuten, um einen perfekt sitzenden Maßanzug in Auftrag zu geben." Einen solchen trägt auch der Firmenchef an diesem Tag - recht schlicht, wenn man das von dezenten roten Nadelstreifen durchzogene graue Tuch mit der großen Stoffauswahl vergleicht, die in seinem Bahrenfelder Atelier ausliegt.

Aus bis zu 4000 Stoffen können Anthonys Kunden wählen. Farblich abgestimmt kombiniert der Hamburger dazu eine rote Krawatte mit einem dezenten Blumenmuster. "Ich trage nur ab und zu Anzüge in auffälligen Farben. Am liebsten würde ich nur weiße Hemden tragen", sagt der Inhaber der Maßschneiderei, der selbst gar kein Schneider, sondern Volkswirt ist. "Eher juckt es mich bei Beratungsgesprächen in den Fingern, für meine Kunden etwas sehr Extravagantes zu kreieren, wenn ich überzeugt bin, dass sie es tragen können." Fünf Wochen nach dem ersten Treffen können diese dann zur Anprobe kommen, um das perfekt auf den Leib geschneiderte Kleidungsstück in Empfang zu nehmen. Ein Unikat eben, ein Luxus, den sich all die Leute mit dem nötigen Kleingeld gönnen, wenn siekeine Ware von der Stange haben wollen. Genau darauf reagieren immer mehr Hamburger Unternehmer.

Seit einiger Zeit kommen zunehmend Maßanfertiger in der Hansestadt dem Wunsch der Kunden nach Exklusivität nach. Mittlerweile sind sie jedoch nicht mehr nur in der Bekleidungsbranche zu finden. Auch Musikinstrumente, Fahrräder und Möbel können ganz nach den Vorlieben der Kunden hergestellt werden. Diese Entwicklung beobachtet auch Peter Wippermann, Gründer des Hamburger Trendbüros. "Man muss es sich wie eine Art Kulturkampf vorstellen", erklärt Wippermann, der seit Jahren den gesellschaftlichen Wandel beobachtet und untersucht. "Im Rahmen der Industrialisierung war die Gesellschaft stolz darauf, dass man mithilfe von Maschinen identische Gegenstände mit gleichbleibend guter Qualität herstellen konnte. Die heutige Gesellschaft erfreut sich an der Andersartigkeit."

Carolyn Bendahan schneidert Dessous auf den Leib

Dass Handgemachtes populär ist, sei nichts Neues, sagt der Experte. "Die Leute beginnen ja auch wieder, sich Schals und Socken zu stricken." Dieser Trend gipfele natürlich darin, dass Kunden Handwerker wie Schneider und Schuster beauftragen, Einzelstücke für sie herzustellen. "Heute ist es keine Selbstverständlichkeit mehr, dass Menschen für Menschen arbeiten und keine Maschinen", sagt Wippermann. "Diese Tätigkeit kann man dem Luxussegment hinzuzählen, denn dieser Service lässt sich etwas kosten."

Bei Anthony beginnen die Preise für einen Anzug bei etwa 700 Euro, Frauen müssen für ein Kostüm oder Kleid mindestens 900 Euro bezahlen. "Bei besonders ausgefallenen Stücken kann der Preis stark ansteigen, bis zu 3000 Euro ist normal", sagt der 46-Jährige, der 1996 sein Atelier eröffnete und mittlerweile 16 Angestellte beschäftigt. Besonders wichtig ist für ihn die Stammkundschaft, die bei ihm vornehmlich Herrenanzüge bestellt. Generell könne seine Firma alles "bis auf Jeans oder BHs" anbieten, sagt Anthony. Sein größter Kunde besitzt knapp 400 Maßanzüge, andere bestellen bei einem Einkauf bis zu zehnmal dieselbe Kombination. "Der Vorteil ist hier die Zeitersparnis", sagt der Hamburger mit britischen Vorfahren. "Außerdem gibt es Männer, die keine Freude am Einkaufen haben. Für sie ist unser Service recht komfortabel, meine ich."

Komfortabel wollen es auch die Kunden von Schuhmacher Benjamin Klemann. In seiner Manufaktur in der Poolstraße fertigen er und sein Team Schuhe nach einer 500 Jahre alten Tradition an. Der 52-Jährige ist sich bewusst, dass seine Dienstleistungen ein teures Vergnügen sind. "Jeder Kunde bekommt eigens für ihn angefertigte Leisten, für die wir etwas berechnen müssen", sagt Klemann, der seit 30 Jahren im Geschäft ist. Expertenmeinungen zufolge ist er der derzeit populärste Maßschuhhersteller in Deutschland. Er selbst nennt 16 Paar sein Eigen.

Für einen handgenähten Schuh zahlen Kunden ab 1800 Euro, die Kosten können bis in den fünfstelligen Bereich hinaufgehen. Trotz der hohen Preise haben Klemann und sein Team bis in den Sommer hinein volle Auftragsbücher. Von der Bestellung bis zur ersten Anprobe vergeht bis zu einem halben Jahr. "Bei der richtigen Pflege werden die Schuhe aber 100 Jahre alt", sagt der Experte, der über Jahre hinweg in London beim Hoflieferanten gearbeitet hat. Auch wenn er seinen Kunden ausgefallene Materialien wie Frosch-, Elefanten-, Straußen- oder Haifischleder bieten kann, ordern viele konservative Schuhe wie die bekannten Oxford-, Budapester oder Cambridge-Modelle aus Kalbsleder, die seit Jahrzehnten als Klassiker gelten. 150 Paar stellt die Werkstatt pro Jahr her.

Im Gegensatz zum Stil der Modelle hat sich jedoch seine Kundschaft in den vergangenen Jahren stark verändert. "Während meiner Lehrjahre haben sich immer Ältere Schuhe anfertigen lassen. Heutzutage werden die Kunden immer jünger", sagt Klemann. Die meisten Kunden sind um die 40 Jahre alt; ab und zu fertigt der Schuhmachermeister auch Schuhe für deutlich jüngere Kundschaft. Ein einzigartiges Paar Schuhe gibt es übrigens auch schon für kleineres Geld. "Besonders beliebt sind derzeit die Unternehmen, die Einzelstücke mithilfe eines Baukastenprinzips herstellen", sagt Trendforscher Wippermann. Bei Firmen wie dem Sportartikelhersteller Nike können Kunden im Internet ihren eigenen Schuh zusammenstellen - vom Material über die Form bis hin zur Farbe. Die Digitalisierung ermöglicht diesen Konsumwandel, der sowohl Vorteile für den Händler als auch den Konsumenten besitzt. "Der Kunde bekommt sein exklusives Einzelstück und der Händler hat sein Produkt verkauft, bevor es überhaupt produziert wurde", sagt Wippermann. "So ist Individualisierung auch für den Normalbürger möglich."