Heidi Kabel: Operation Gomorrha - Als Hamburg in Schutt und Asche lag, erblickte Tochter Heidi Mahler das Licht der Welt.

Hamburg. Wer seinem Traum vom großen Theater Flügel verleihen will, kann einen Engel gut gebrauchen. So wie jener, der 1937 bei Heidi Kabels Taxiunfall Pate stand. Der Krankenhausaufenthalt war rasch vergessen, das Schmerzensgeld indes wirkte nach. 3700 Reichsmark bildeten den Grundstock für die Wohnungseinrichtung des frisch verheirateten Ehepaars. Hans Mahler erhielt von der Niederdeutschen Bühne 250 Mark Monatsgage, seine Frau die Hälfte. "Große Sprünge waren damit nicht zu machen", sagte sie später.

Umso ergiebiger fiel das Glücksgefühl aus, als die langwierige Quartierssuche mit einem Erfolgserlebnis abgeschlossen wurde: Heidi und Hans bezogen eine schnuckelige Zweizimmerwohnung mit Kochnische an der Steinstraße 13. Die Monatsmiete betrug 75 Reichsmark, das ging in Ordnung. Wie auch die zentrale Lage in Hauptbahnhofsnähe. In den Großen Bleichen aufgewachsen, fühlte sich die nun 23-jährige Schauspielerin in der Innenstadt wie zu Hause.

Die Nachbarn schätzten die blonde Deern mit dem gewinnenden Lachen und dem positiven Naturell. Bei kleinen Hökern in der Steinstraße kaufte sie mit Vorliebe Rundstücke mit Bismarckheringen oder Äpfel aus dem Alten Land. Das Leibgericht: Birnen, Bohnen und Speck.

Aber auch die beiden Jungvermählten spürten die widrigen Zeiten. Immer offensichtlicher wurde das grausame Regiment der Nationalsozialisten. Juden wurden deportiert; Menschen aus dem Bekanntenkreis waren urplötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Doch Heidi Kabel schloss die Augen vor dem politischen Horror, wie so viele andere auch. Im privaten wie im Berufsleben bewies die junge Frau Rückgrat, in übergeordneten Dingen nicht unbedingt: Eine Revolutionärin war das spätere SPD-Mitglied nie. Es passt ins Bild, dass Hans Mahler und Heidi Kabel gemeinsam in die NSDAP eintraten. Vielleicht nicht unbedingt aus ideologischer Überzeugung, der Karriere wegen schon. Für die ansonsten couragierte Künstlerin spricht wiederum, dass sie die Verantwortung nicht anderen zuschob. "Ich habe Hänschen dazu gedrängt", erklärte sie. Dieser wollte mit Parteibuch Intendant in Lüneburg werden. Die Rechnung ging nicht auf.

Manche andere ebenfalls nicht. Das auf der Bühne hart verdiente Geld wurde immer weniger wert. Nicht selten halfen Theaterkarten beim Tausch gegen Lebensmittel. Wie eine Glucke sorgte sich Heidi Kabel um ihre Kinder. Jan-Rasmus kam im Januar 1938 auf die Welt, Bruder Heiko im Mai 1942. Irgendwie müssen die Eltern trotz des zusehends im Chaos versinkenden Deutschlands an die Zukunft geglaubt haben. Denn im Frühjahr 1943 wurde die zweifache Mutter erneut schwanger. Und das in einer Ära, in der Nahrung immer knapper und die Angst vor Fliegerbomben zunehmend größer wurde. Die Operation Gomorrha legte die Hansestadt in Schutt und Asche. "Schrecklich die Vorstellung, wie du mit deinen beiden Söhnen in Luftschutzräumen untergekrochen bist und nach den Angriffen den Weg durch die Trümmer nach Hause suchen musstest", sagte Enkel Jan Hinnerk Mahler 2009 anlässlich des 95. Geburtstags seiner Großmutter.

Und nicht nur er rätselt, woher die "Mutter Courage der kleinen Leute" zeitlebens diese Extraportion Kraft nahm, sich selbst, jedoch ganz besonders ihre Lieben,auf die sichere Seite zu bringen. Im Falle ihres dritten Kindes war dieser Weg die Flucht aufs Land. Um den Flächenbombardements auf Hamburg zu entgehen.

Am 31. Januar 1944, einem frostigen Wintertag, wurde das dritte Kind geboren. Es hieß Heidi, so wie die Mutter. Eigentlich war ein Krankenhaus in Buchholz geplant, doch passend zu den Wirren seinerzeit kam alles ganz anders. Im kleinen Ferienhaus ihrer Eltern in Weihe in der Nordheide setzten die Wehen ein. "Wegen des Schnees wäre die Hebamme mit ihrem Motorrad fast zu spät gekommen", sagte Heidi Mahler drei Tage nach dem Tod ihrer Mutter in einem Telefonat mit dem Abendblatt. Bei Familienfeiern kam diese Episode immer wieder zum Gespräch. "Mutti war stets für uns da", fuhr Heidi Mahler fort. "Erstaunlich bei drei Kindern und dem Beruf."

Als die kleine Heidi ein Jahr alt war, kehrte Frieden ein. Die Probleme ihrer Eltern waren dadurch nicht behoben. Ganz im Gegenteil: Wegen ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP wurden Heidi Kabel und Hans Mahler vom Ohnsorg-Theater entlassen. Neuer Intendant wurde der Kommunist Rudolf Beiswanger. Jener äußerlich bärbeißige Mann, der im März 1932 vor der Bürotür des Niederdeutschen Theaters im Wege stand, als Heidi Kabel und ihre Busenfreundin Eva wegen eines Termins mit Dr. Richard Ohnsorg vorsprachen. Die beiden Deerns wollten nach den Sternen greifen. Im Sommer 1945 war Heidi Kabel weit davon entfernt.

"Es waren grausame Monate", sagte sie später. "Oft wussten wir nicht, wie die Kinder ernährt werden sollten." Vater Ernst nutzte seine Kontakte aus der Zeit als Druckereichef vis-à-vis dem Ohnsorg-Theater oder spannte die Freunde aus dem Niederdeutschen Verein ein. Mutter Agnes nähte Windeln aus zerschlissenen Bettlaken.

Dennoch mangelte es vorne und hinten. Und erneut machte Heidi Kabel eine Tugend stark, die immer dann half, wenn es Probleme gab: Sie krempelte die Ärmel hoch, spuckte in die Hände und legte los. Mit einem Schifferklavier tourte die Schauspielerin durch Gaststätten oder trat bei Familienfeiern auf - mit Hamburger Liedgut. Und wenn es Nacht wurde, klaute sie Kohlen an der Sternschanze. Die Wende brachte erneut ein "Engel": Mister John Olden, Inge Meysels späterer Ehemann.

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