Kraftfahrer Uwe Berg aus Hamburg griff 2008 ein, als Jugendliche einen Mann verprügelten. Er bekam einen Pflasterstein gegen seinen Kopf.

Hamburg. Der Pflasterstein traf auf seine rechte Gesichtshälfte. Er traf den damals 50 Jahre alten Altöl-Fahrer Uwe Berg (Name geändert) aus Mümmelmannsberg härter, als jede Faust es vermag. Dort, wo er in das Gesicht von Uwe Berg drang, hinterließ er zertrümmerte Knochen. Und doch traf er noch günstig: Zwei Zentimeter weiter oben, an der Schläfe - und der Mann säße jetzt nicht mehr hier. Er wäre tot oder schwerbehindert. Das haben die Ärzte klipp und klar gesagt. "Es ist dann am Ende doch erstaunlich, was so ein Kopf alles aushält", sagt der jetzt 52-Jährige.

Ein 18 Jahre alter Jugendlicher warf ihm den Stein vor zwei Jahren an den Kopf. Nicht aus Versehen oder aus Leichtsinn. Er feuerte bewusst. Aus zwei Meter Entfernung und mit einer Wucht, die Augenzeugen an den Wurf eines Rückraumspielers beim Handball erinnerte. Exakt erinnern kann sich Berg an den Vorfall nicht. Doch das heißt nicht, dass er ihn je vergessen könnte. "Das bleibt für immer", sagt Uwe Berg. Er trägt ein Kakihemd, schaut sich eine Tier-Doku im Fernsehen an, als er die Leute vom Abendblatt empfängt, um ihnen zu berichten, was mit ihm geschehen ist, nachdem der Jugendliche sein Gesicht und, mehr noch, sein Weltbild zertrümmerte.

Mit einem Bekannten war Uwe Berg an jenem Sonnabend, dem 12. April 2008, beim Spiel des HSV gegen MSV Duisburg gewesen. Eine Niederlage. Ärgerlich. Aber was soll's. Das Wetter war prächtig. Vorfrühling. Gegen 22 Uhr war Uwe Berg am Bahnhof Mümmelmannsberg dem Zug entstiegen. 300 Meter hatte er noch zu gehen, dann würde er die Haustüre aufschließen, drei Etagen im engen Lift nach oben fahren, die Schuhe ausziehen, bei seiner Frau und dem kleinen Hund sein, sich auf das Ledersofa fallen lassen. Es sollte anders kommen. Auf dem Bahnsteig sah Berg, wie zwei junge Männer einen älteren Mann zu Boden traten. "So Kung-Fu-Tritte", wie er sich erinnert. Weil er gar nicht anders konnte, ging Berg dazwischen. Der 52-Jährige: "Ich habe den einen der beiden von dem Mann weggeschubst. Der ältere Herr ist aufgestanden, ging weg. Ich dachte, damit hätte sich das Ganze dann auch erledigt." Berg ging weiter. Er bemerkte nicht, dass er sich mit seinem Eingreifen den Zorn des Schlägers zugezogen hatte. Der Täter, das sagten Zeugen später aus, griff sich einen Pflasterstein, der in der Nähe des ersten Tatorts gelegen hatte. Mit dem Stein in der Hand rannte er hinter Berg her. Als er auf etwa gleicher Höhe war, holte er aus, schleuderte den Stein. Berg taumelte, hielt sich das Gesicht, fiel aber noch nicht um. "Ich habe mit meiner Hand in mein Gesicht gefasst und gefühlt, dass da nichts mehr so war, wie ich es kannte." Er sah das Blut an seinem Arm, dann ging er doch noch zu Boden. Der Steinewerfer rannte davon. Jemand holte einen Rettungswagen.

Zwei Operateure vom UKE versuchten fünf Stunden lang, wieder einen Zusammenhang in die rechte Gesichtshälfte des zweifachen Vaters zu bekommen. "Im Prinzip alles rund ums Auge", sagt Uwe Berg auf die Frage, welche Verletzungen er genau erlitten habe. Nase, Jochbein, Kiefer. Alles kaputt. Fünf Metallplatten und 21 Schrauben setzten die Ärzte in seine rechte Gesichtshälfte. Berg hat ein Foto dieser Gegenstände. Es sieht aus, als hätte jemand ein Baumarkt-Sortiment ausgekippt. "Wie ein Puzzle" hätten die Ärzte sein Gesicht zusammengebastelt, sagt er.

Monatelang war der Kraftfahrer, der im Auftrag seines Chefs Altöle und andere Stoffe bei Autohäusern einsammelt und entsorgt, krankgeschrieben. Schon vier Folgeoperationen hat er über sich ergehen lassen müssen. Die sechste folgt in ein paar Wochen. Dann soll ihm ein Stück Knochen aus der Hüfte entnommen und unter das Auge gesetzt werden. "Das heißt, ich werde wieder krankgeschrieben", sagt Berg. Man merkt, dass es ihm leid tut. Dass er seinem Chef etwas von der Treue zurückgeben will, die der nach dem Zwischenfall bewiesen hat.

"Natürlich hätte ich mich monatelang krankschreiben lassen können", sagt Berg. Aber ich dachte, wenn ich schnell wieder an die Arbeit gehe, kann ich vielleicht mal abschalten und muss nicht ständig an diese Sache denken." Nicht nur die Unbegreiflichkeit der Tat, auch der Schmerz hält Uwe Berg davon ab zu vergessen. "Wenn ich aufstehe, habe ich Schmerzen, wenn ich ins Bett gehe, noch immer. Gerade dann, wenn es still ist, merke ich, wie mein Ohr piept. Meine Gesichtshälften fühlen sich völlig unterschiedlich an", sagt Berg. Zeitweise war das Gewebe so verhärtet, dass schmerzlindernde Spritzen nicht mehr hineingingen. Und immer diese Tabletten. Aus Angst, abhängig zu werden, hat der 52-Jährige versucht sie abzusetzen. "Es ging nicht", sagt Berg. Nur im Dienst nimmt er keine Medizin.

Der Täter war vier Wochen nach der Pflasterstein-Attacke dank Zeugenaussagen und der Videoüberwachung auf dem Bahnsteig gefasst worden. Im Prozess war Uwe Berg Nebenkläger. Der Weiße Ring unterstützte ihn - von Anfang an und bis heute. Der 18 Jahre alte Täter gestand. Er begann seinen Auftritt vor Gericht mit einer genuschelten Entschuldigung. Er sei betrunken gewesen, das Ganze tue ihm leid. Dafür, dass er an dem Abend angeblich eineinhalb Flaschen Wodka getrunken hatte, sei der Bursche ziemlich schnell gelaufen, erinnert sich Berg.

Die Entschuldigung nahm der Nebenkläger nicht an. Der Täter berichtete von einem prügelnden marokkanischen Vater, von Monaten im betreuten Wohnen, davon, dass sein Betreuer vor einigen Monaten gestorben sei. Der Staatsanwalt verlas die Akte des Angeklagten. Das habe lange gedauert, so Rausch. Kurz nach seinem 18. Geburtstag fuhr der Gewalttäter in den Jugendknast Hahnöfersand ein. Zweieinhalb Jahre Jugendstrafe. Um das Wohlergehen des Täters ist Uwe Berg nicht bange. Er sieht das pragmatisch: Wer keine Hemmschwelle kennt, der muss mit den Konsequenzen leben.

Aber seit ein paar Wochen denkt er wieder häufiger an seinen Täter. "Bald kommt er frei", weiß Berg. "Ich habe mir schon oft vorgestellt, was passiert, wenn er plötzlich vor mir stünde." Ob der Täter dann verschämt den Blick senkte? Ob er vielleicht sogar in ihm, Berg, den Täter sähe - den Mann, der ihn in den Knast gebracht hat? Auch seine eigene Reaktion kann Berg nicht einschätzen. "Wer weiß das vorher? Vielleicht bekomme ich Angst. Vielleicht Rachegefühle. Ich hoffe nicht", sagt der 52-Jährige. Er hat kräftige Arme und einen sanften Blick.

Am Bahnhof Mümmelmannsberg zeugt eine Spur in einer metallenen Wand vom Steinwurf des Täters. In die Zeitung hat der Fall es nie geschafft. Uwe Berg will noch erzählen, dass der Stein, nachdem er von seinem Kopf abprallte, noch eine Scheibe zerschlug. So hart war der Wurf. "Verrückt, nicht?", sagt er und lächelt. Das Augenlicht haben die Ärzte retten können. Nur deshalb kann Berg seinen Job weitermachen. Nicht auszudenken, wenn der junge Gewalttäter ihm auch das noch genommen hätte.