Ein Papier der Handelskammer sorgt für Streit beim Ringen um den Schulfrieden in Hamburg. Moderator Michael Otto reagiert empört.

Hamburg. Und sie bewegen sich doch: Die Vertreter der schwarz-grünen Koalition und der Volksinitiative "Wir wollen lernen" sind sich in der vierten Verhandlungsrunde über die Schulreform ein Stück nähergekommen. Nimmt man die freundlichen Worte, die gestern nach dem gut zweistündigen Treffen im Rathaus zu hören waren, für die Tat, dann ist eine Einigung in greifbarer Nähe.

In Wirklichkeit stehen sich die Positionen in der Frage einer freiwilligen oder verbindlichen Einführung der Primarschule unverändert gegenüber.

"Wir haben Fortschritte gemacht. Beide Seiten haben sich bewegt", sagte GAL-Fraktionschef Jens Kerstan. Das betrifft in erster Linie die Zusammensetzung der unabhängigen Expertenkommission, die die Einführung der Primarschule wissenschaftlich untersuchen und bewerten soll. Wie berichtet, besteht die Koalition nicht mehr darauf, dass der Senat den Vorsitzenden benennt. Beide Seiten sollen sich jetzt auf einen Namen einigen. Die weiteren sechs Mitglieder der Kommission sollen paritätisch vorgeschlagen und möglichst im Konsens berufen werden.

Wie eine Bombe schlug gestern ein "Kompromissvorschlag" der Handelskammer bei den Gesprächen ein. Handelskammer-Präses Frank Horch und Hauptgeschäftsführer Hans-Jörg Schmidt-Trenz, die bislang eine neutrale Rolle eingenommen hatten, machen sich darin den Vorschlag der Volksinitiative weitgehend zu eigen. "Ab Herbst 2010 werden insgesamt 50 Grundschulen in Primarschulen umgewandelt", heißt es in dem Kammer-Papier. "Diese Zahl ergibt sich aus den sogenannten Starterschulen sowie weiteren Schulen, die auf freiwilliger Basis gefunden werden", heißt es weiter. Genau das hatte die Volksinitiative angeboten.


Bis zum Schuljahr 2012/2013 sollen die beiden Schulsysteme von einem wissenschaftlichen Institut miteinander verglichen werden. Die Wissenschaftler erstellen "einen Bericht, der die Grundlage der Empfehlung der Kommission bildet, ein flächendeckendes System an Primarschulen einzuführen oder nicht". Eine Entscheidung über die verbindliche Einführung der Primarschule erst am Ende der wissenschaftlichen Überprüfung, wenn überhaupt, hat die Initiative immer gefordert. Die Koalition besteht dagegen weiterhin auf einer verbindlichen Einführung der neuen Schulform vor der nächsten Bürgerschaftswahl 2012.

Das Vorgehen von Horch und Schmidt-Trenz war offensichtlich mit dem Unternehmer Michael Otto, einem langjährigen Präsidiumsmitglied der Handelskammer, nicht abgestimmt. Otto hatte aber als Moderator im Schulstreit einen Kompromissvorschlag erarbeitet, der die verbindliche Einführung der Primarschule vorsieht. Nach Abendblatt-Informationen hat Otto deswegen empört auf den Vorstoß von Horch und Schmidt-Trenz reagiert. "Otto ist mehr als sauer", hieß es aus Koalitionskreisen. Der Unternehmer soll Horch und Schmidt-Trenz vorgeworfen haben, ihm in den Rücken gefallen zu sein.

Aufseiten der Koalition wurde das Kammer-Papier als "etwas überraschend" bezeichnet. Horch und Schmidt-Trenz hätten dem von allen gewünschten Schulfrieden damit einen "Bärendienst" erwiesen. Bei CDU und GAL gilt der Vorstoß mit dem Titel "Hamburger Schulfrieden" als nicht verhandlungsfähig. Für Irritationen auf schwarz-grüner Seite sorgte außerdem, dass der Kammer-Vorstoß als Beschlussvorlage für die beiden Verhandlungsdelegationen formuliert war, also als Muster für eine Vereinbarung. Umgekehrt konnten die Vertreter der Volksinitiative ihr Glück wegen der unerwarteten Schützenhilfe kaum fassen. "Das ist ein sehr vernünftiger Weg", sagte Initiativensprecher Walter Scheuerl. Auch die Reformgegner um Scheuerl gingen gestern einen Schritt auf die schwarz-grünen Reformbefürworter zu. Hatten sie bislang eine Entscheidung über die verbindliche Einführung der Primarschule nach sechsjähriger Erprobung 2016 gefordert, so sind sie jetzt bereit, 2014 als Termin zu akzeptieren.

Die Volksinitiative hatte im Rahmen eines Volksbegehrens im November 184 500 Unterschriften gegen die Primarschule gesammelt. Die Verhandlungen werden mit dem Ziel geführt, einen Volksentscheid zu vermeiden. Die Koalition hat der Initiative eine Entschleunigung der Reform um ein Jahr und eine stufenweise, wissenschaftliche Überprüfung der Qualitätsstandards angeboten.

Die Patriotische Gesellschaft hat beide Seiten aufgefordert, "möglichst zügig einen vernünftigen Kompromiss" zu finden. Die Gesellschaft begrüßt die zeitliche Streckung, hält aber die Einführung der Reform auf freiwilliger Basis "praktisch nicht für durchführbar".

Am Freitag setzen Schwarz-Grün und die Initiative ihre Gespräche fort.