Michael Kühn arbeitet für die Welthungerhilfe in Haiti. Jan-Eric Lindner hat mit ihm per Satellitentelefon gesprochen.

"Haiti braucht keinen Hurrikan", hat Michael Kühn gesagt, als das Abendblatt ihn im August 2007 besuchte. "Haiti ist eine permanente Katastrophe." Seit zehn Jahren lebt der 48-jährige Billstedter mit seiner Tochter Gaelle (9) in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Dort steuert er als Koordinator der Welthungerhilfe die vielfältigen Projekte, mit denen die Organisation versucht, die allergrößte Not im mit Abstand ärmsten Land der westlichen Hemisphäre zu lindern. Kühns Kampf gegen Hunger, Wassermangel, Kahlschlag, Zerstörung und Perspektivlosigkeit der Einwohner mutete schon damals, vor der Erdbeben-Katastrophe, an wie ein Duell mit Windmühlen. Doch es gab Erfolge - nicht zu wenige.

Das Erdbeben hat der Hamburger in seinem Auto erlebt. Er hatte seine kleine Gaelle gerade vom Ballettunterricht abgeholt. Per Satellitentelefon schilderte er am Mittwochabend, wie er das Beben und die Situation 24 Stunden später in der nahezu komplett zerstörten Zwei-Millionen-Stadt wahrnimmt: "Ich befürchte Zehntausende Todesopfer. Warum? Weil Krankenhäuser, Schulen, Supermärkte und Hunderte Häuser eingestürzt sind." Er selbst hat zahllose Tote gesehen und viele Verletzte. Blutüberströmte, geschockte Menschen. Menschen, die mit gebrochenen Beinen auf den Straßen liegen und denen nicht geholfen werden kann, weil die ohnehin kaum vorhandene medizinische Versorgung vollständig zum Erliegen gekommen ist. Weil keine technischen Hilfsmittel vorhanden sind, graben die Unverletzten mit bloßen Händen nach Verschütteten. "Sie sind schreiend und betend durch die Straßen gelaufen. Sie haben Gott gedankt, dass sie überlebt haben. Und sie suchen ihre Verwandten, zu Fuß, denn das Telefonnetz ist zusammengebrochen."

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Er selbst habe das einsetzende Beben wie einen Faustschlag wahrgenommen: "Das Auto wurde durchgeschüttelt, taumelnde Menschen kamen aus den Häusern gerannt, die Bäume bogen sich, wie in einem Hurrikan." Die meisten der Toten, so vermutet Kühn, sind durch einstürzende Mauern und Deckenteile erschlagen worden. Kühn: "Wenn die Leute darunter begraben werden, dann sind sie in der Regel tot, weil es Betondecken sind. Das sind die Menschen, die wir am Nachmittag gesehen haben."

Das Haus von Michael Kühn in Pétionville oberhalb des Molochs Port-au-Prince hat verhältnismäßig wenig Schaden genommen. Kühn: "Das Epizentrum lag im Meer. Darum ist es in den Hügeln nicht ganz so dramatisch." Auch das Büro der Welthungerhilfe steht noch. Die Buchhalterin hat ihr Haus verloren. Sie ist in das Büro gezogen.

Schon vor drei Jahren hatte Kühn, den "Zufall und Experimentierlust" nach Haiti brachten, beklagt, dass es den Geberländern "am Willen, diesem Land mal konsequent aus dem Elend zu helfen", mangele. Unterstützung blieb oft nur Stückwerk. Die Welthungerhilfe setzt in Haiti daher seit Jahren auf das Konzept "Hilfe zur Selbsthilfe".

Im Haiti nach dem Beben jedoch sind Konzepte fehl am Platz. Es geht um das nackte Überleben. Die Situation auf den Straßen sei unvorstellbar, sagt Kühn: "Die Menschen schlafen im Rinnstein. Niemand traut sich mehr in die Häuser. In einer Mischung aus Neugier und Verzweiflung stolpern sie durch die Straßen."

Mehr als 100 000 Tote werde es geben, fürchtet Haitis Ministerpräsident Jean-Max Bellerive. Eine Zahl, die nicht übertrieben erscheint, wenn man die Hauptstadt Port-au-Prince kennt. Allein im Elendsviertel Cité de Soleil, zwischen Flughafen und Hafen, leben 300 000 Menschen zusammengepfercht in Blechhütten und Baracken. Ein Großteil der festen Häuser im Zentrum der Stadt sind Schwarzbauten, die über keinerlei Sicherheitsvorkehrungen verfügen oder gar erdbebensicher gebaut sind. Tag und Nacht sind die Straßen hier voll mit Menschen.

Dass auch so symbolträchtige Bauwerke wie der Präsidentenpalast und die Kathedrale zerstört wurden, hat die schicksalsgläubigen Haitianer tief erschüttert, sagt Kühn. Die Gebäude hatten großen Symbolcharakter. Sie stehen für Staatsgewalt und Religion. "Die Region könnte durch dieses Ereignis komplett aus den Fugen geraten", fürchtet der alleinerziehende Vater. Zudem sind Wasserrohre geborsten, Nahrungsmittel schon jetzt knapp. Wenn es zu Wassermangel und Hunger kommt, fürchtet Kühn, werde es Aufstände geben.

Das Land zu verlassen steht für Kühn nicht zur Debatte: "Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit zu helfen, wo ich helfen kann", sagt er.

Das Technische Hilfswerk (THW), die Diakonie, das Malteser Hilfswerk, das Kinderhilfswerk Plan International und die Caritas haben Erkundungsexperten nach Port-au-Prince entsandt, das Rote Kreuz schickt ein mobiles Krankenhaus. Die Hilfswelle, sie rollt langsam an. Für viele Tausend Menschen kommt sie trotz der schnellen Reaktion der Organisationen zu spät. Nicht Stunden, sondern Jahre.