Vor einem Jahr wurde Barack Obama 44. Präsident der USA. Sein “Yes we can!“ begeisterte die Menschen weltweit. Er war für viele ein Messias.

Angesetzt zum Sprung hatte er kraftvoll als Königstiger; das anvisierte Ziel war eine neue Ära für Amerika und am besten gleich für die ganze Welt. Zurzeit ist Barack Obama, um im Bild zu bleiben, noch in der Luft. Entschieden ist allerdings noch nicht, wie weit der Sprung ihn und sein Land tragen wird, vor allem aber nicht, ob er am Ende als Tiger oder als Bettvorleger landen wird.

"Wir sind bereit, das Land in eine fundamental andere Richtung zu steuern. Es gibt kein Problem, das wir nicht lösen können", hatte Obama im Januar 2008 voller Zuversicht gesagt. Weltweit wurde sein Kampfslogan "Yes we can!" zitiert. Doch wie verändert ist Amerika jetzt, wie viele Probleme sind gelöst?

Wohl noch nie in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika haben derart erdrückende Erwartungen und Hoffnungen auf einem neuen Präsidenten geruht wie auf Barack Hussein Obama II. Es ist 2000 Jahre her, dass das Wort "Messias" so oft im Zusammenhang mit einer Person genannt wurde. Und hier liegt das gravierendste Problem für den ersten schwarzen Präsidenten der USA: Obama ist zwar hochintelligent, beeindruckend eloquent und zielorientiert. Er ist aber eben nur ein Mensch. Gemessen an dem weltweiten Freudentaumel im November 2008, als der aus der politischen Provinz wie ein Korken aus dem Wasser auftauchende junge Senator die in bräsiger Selbstgefälligkeit erstarrten Republikaner aus der Machtzentrale fegte und im Januar ins Weiße Haus einzog, ist die Ernüchterung groß.

Genüsslich legte Karl Rove kürzlich im "Wall Street Journal dar, dass Obama mit einer Zustimmungsrate laut Erhebung der Zeitschrift "USA Today" und des Meinungsforschungsinstitutes Gallup von nur 49 Prozent und einer Ablehnung von 46 Prozent das erbärmlichste Umfrageergebnis aller Präsidenten der jüngeren US-Geschichte nach einem Jahr Amtszeit aufweise. Zweierlei ist dazu anzumerken. Zum einen, dass Karl Rove ehemals Chefstratege und wichtigster Berater von US-Präsident George W. Bush war und in den USA als Rufmörder gilt. Zum anderen, dass Obamas Umfrageergebnis entscheidend zu tun hat mit den überzogenen Erwartungen an ihn, gerade jene Probleme der Welt in Rekordzeit zu lösen, die es ohne die katastrophale Politik der Bush-Administration so nicht gegeben hätte. Am augenfälligsten ist dies bei den beiden gefährlichsten Erblasten, mit denen Obama zu tun hat: der Wirtschaftskrise und dem Krieg in Afghanistan.

Die weltweite Krise nahm ihren Ausgang bei amerikanischen Finanzinstituten, die das globale Bankensystem mit faulen Krediten und substanzlosen Papieren aushöhlten. Die Politik der nackten Gier gedieh besonders prächtig auf dem Boden der neokonservativen Ideologie. Mit seinen gigantischen Rettungspaketen ist es Obama immerhin gelungen, den totalen Infarkt des US-Finanzsystems abzuwenden. Doch selbst seine öffentliche Entrüstung und seine intensiven Appelle konnten die Banker nicht zu einer Änderung ihrer Kultur veranlassen. Die nächste Blase kommt bestimmt ...

Im Falle des Afghanistan-Krieges, dieses von seinem Vorgänger geerbten Großkonflikts, stand Barack Obama vor dem Dilemma, den auch in den USA sehr unbeliebten Waffengang ungewonnen zu beenden - mit verheerenden Konsequenzen für die weltpolitische Statur der USA und der Nato. Oder ihn zu intensivieren - mit der vagen Hoffnung auf einen Sieg. Zähneknirschend und nach langem Zögern hat sich Obama für Letzteres entschieden.

Die groteske Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn - in vorauseilender Belohnung einer künftigen friedensstiftenden Politik Barack Obamas - zwang den US-Präsidenten zu der für einen Friedensnobelpreisträger schon sehr bemerkenswerten Erklärung, dass, wer wirklich den Frieden wolle, manchmal eben ein paar Kriege führen müsse. Zehntausende Soldaten mehr an die afghanische Front, dazu Bombenangriffe auf Ziele in Pakistan und neuerdings im Jemen - nicht nur hartleibige Gutmenschen bemängeln, dass der "Kriegspräsident" sich damit meilenweit von seinen alten Idealen entfernt hat. Bei seiner Amtseinführung hatte er "an die Adresse der politischen Führer auf diesen Planeten" noch gemahnt: "Denkt daran, dass eure Völker euch daran messen, was ihr schafft - und nicht daran, was ihr zerstört." Obama ist in den Niederungen der Realpolitik angekommen. Eine amerikanische Karikatur brachte es auf den Punkt: Darauf beugt er sich aus einem Kampfpanzer, damit ihm die Nobelpreis-Medaille umgehängt werden kann.

Ein zentrales Versprechen Obamas im Wahlkampf war die Schließung des US-Militärgefängnisses Guantánamo auf Kuba - als Ort von Folter und Erniedrigung von Gefangenen inzwischen Sinnbild für die Schandtaten der Bush-Ära. Nur 24 Stunden nach seinem Amtsantritt im vergangenen Januar befahl der neue Präsident, diese Haftanstalt stillzulegen. Als Datum nannte er zunächst den 22. Januar 2010. Doch inzwischen ist höchst unsicher, wann und ob überhaupt Guantánamo geschlossen werden kann. Vor wenigen Tagen stellte sich heraus, dass zwei freigelassene Häftlinge - Nummer 333 und 372, beide aus Saudi-Arabien - nicht Eiligeres zu tun hatten, als Führungspositionen bei al-Qaida im Jemen einzunehmen. Sie sollen hinter dem in letzter Minute gescheiterten Bombenattentat des Nigerianers beim Landeanflug auf Detroit stehen. Und rund 90 der 198 noch einsitzenden Häftlinge in Guantánamo stammen aus dem Jemen - wo Obama gerade einen Kampf gegen al-Qaida vom Zaun gebrochen hat. Wenn sich einer von ihnen nach der Freilassung an einem erfolgreichen Anschlag auf die USA beteiligen würde, wäre Obamas Position höchst prekär. Für die geheimdienstlichen Koordinationspannen im Fall des "Detroit-Bombers" übernahm er persönlich die Verantwortung. Es ist eine noble Geste, die Bush nie eingefallen wäre - aber auch eine Steilvorlage für die Republikaner, die sie gegen ihn wenden werden.

Doch die bislang schwerste politische Niederlage erlitt Barack Obama kürzlich auf dem Klima-Gipfel in Kopenhagen. War er schon mit einem weit bescheideneren Schadstoff-Reduzierungsangebot als die Europäer nach Dänemark gekommen, so wollte er die Staatengemeinschaft wenigstens für einen Minimalkonsens gewinnen. Der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao erniedrigte Obama jedoch mehrfach und torpedierte mithilfe ihm gewogener Staaten jeden Fortschritt: China ist bei seinem explosionsartigen Wachstum auf Kohlekraftwerke angewiesen und will sich nicht von Umweltbestimmungen bremsen lassen. Obamas Pleite in Kopenhagen gibt ihm einen Vorgeschmack auf weitere Auseinandersetzungen mit der künftigen Supermacht China. "Die Geschichte hat bewiesen, dass keine Herausforderung zu groß ist für eine Welt, die zusammensteht", hatte Obama am 24. Juli in Berlin gesagt. Nun hat er erfahren müssen, dass so manche Herausforderung einfach zu groß ist für eine gespaltene Welt.

Auch im Nahen Osten hat der Präsident bislang wenig bewegt. Friedenspolitisch betrachtet ist es auch eine unglückliche Konstellation: Ein als islamfreundlich geltender US-Präsident mit dem zweiten Vornamen Hussein trifft auf eine erznationalistische israelische Regierung und eine zerrissene palästinensische Führung. Auf allen Seiten herrscht Misstrauen. Obama ist entschlossen und voll des guten Willens, hat aber derzeit wenig Fortune und wenig Macht zur Veränderung. Das gilt erst recht für seine gutherzige Forderung nach einer Welt ohne Atomwaffen, der ein bedenkliches Maß an Naivität anhaftet. Neue Atomstaaten sprießen derzeit wie Pilze aus der Erde, und die Fälle Irak und Nordkorea haben auch noch dem letzten Tyrannen vor Augen geführt, dass er sich besser rasch die Bombe zulegt: Das Regime des atomlosen Saddam Hussein wurde von US-Truppen hinweggefegt, doch Hand an den nuklear bewaffneten Despoten Kim Jong-il anzulegen, das wagte auch George W. Bush nicht.

So mager die außenpolitische Bilanz in der Substanz im ersten Amtsjahr ausfallen mag - immerhin hat Barack Obama mit einem neuen Politikstil den in der Bush-Ära entstandenen Riss zwischen den USA und dem Rest der Welt in Rekordzeit weitgehend kitten können. Man merkt: Dieser US-Präsident hört zu, bemüht sich glaubwürdig um Verständnis der anderen Seite, ersetzt Politik nicht durch aggressive Ideologie. Barack Obama hat den USA im Ausland wieder ein attraktives Gesicht gegeben - nach dem vergleichsweise "hässlichen Amerikaner", den Bush, Cheney, Rumsfeld und andere acht Jahre lang der Welt vorgeführt haben.

Innenpolitisch hat Obama sogar gewisse Chancen, einen sensationellen Erfolg einzufahren. Immerhin hat der US-Senat kurz vor Jahresende der umstrittenen Gesundheitsreform prinzipiell, wenn auch mit allen Zähnen knirschend, zugestimmt. Den Konservativen in den USA passt es vor allem nicht, dass 31 Millionen bislang völlig unversicherte Amerikaner einen staatlich initiierten Krankenschutz erhalten sollen. Denn damit, so das konservative Credo, werde dem Staat ein gefährlicher Einfluss gebilligt. Das Gesetz muss noch in beiden Häusern des US-Kongresses mit den jeweils eigenen Vorlagen abgestimmt werden - dabei drohen noch schwere Verhandlungen.

Denkbar ist ein glänzender Sieg Obamas, einer, der damals auch Bill Clinton nicht vergönnt war. Gut möglich ist aber auch, dass das Gesetz am Ende bis zur Unkenntlichkeit sozusagen zerhandelt wird. Der Durchbruch wäre dringend notwendig für das etwas glanzlos gewordene Renommee des Präsidenten. Angesichts bisher ausbleibender Triumphe ist selbst unter Demokraten bereits von einem "Obama-Malus" die Rede, den man bei der eigenen Kandidatur möglichst meiden sollte.

Es ist das erste Amtsjahr des ersten schwarzen Präsidenten der USA. Gemessen an den völlig überhöhten Erwartungen hat Obama bislang wenige Erfolge bei der Heilung der Welt aufzuweisen. Doch eine negative Bewertung dieses charismatischen Mannes nach nur einem Jahr griffe viel zu kurz. Denn viele schwere Probleme der USA und der Welt sind allenfalls langfristig lösbar. Drei weitere Amtsjahre hat der Mann aus Chicago mindestens noch vor sich. Erst danach wird man wissen, welchen Platz Obama in der Geschichte einmal einnehmen wird. Auch wenn ihn manche bereits als Bettvorleger sehen, hat er durchaus noch Chancen auf den Status eines Königstigers.

Das Kernproblem des Barack Hussein Obama hat seine Frau Michelle im Mai trefflich formuliert: "Ich höre, er ist ein eindrucksvoller Typ. Ein großartiger Redner. Ein Juraprofessor. Ein Bestsellerautor. Und ein Grammy-Gewinner. Bewundernswert! Doch wie bringe ich das in Einklang mit dem Typen, der bei mir zu Hause lebt?"