Polizistin Sabrina Lemmermann erlebt täglich Gewalt gegen sich und ihre Kollegen. Trotzdem spricht die 40-Jährige von einem Traumberuf.

Hamburg. Manche Fragen, so scheint es im ersten Moment, versteht Sabrina Lemmermann nicht. Warum sie immer noch Polizistin ist? Warum sie immer noch, Tag für Tag und Nacht für Nacht, die Bösen jagt? Es ist fünf Uhr morgens, draußen ist es bitterkalt und noch stockdunkel, und die Oberkommissarin hat am Vorabend um 21 Uhr ihren Dienst im Streifenwagen angetreten. Nun sitzt sie im Polizeikommissariat (PK) 38 in der Scharbeutzer Straße in Rahlstedt, und die 40-Jährige mit den kurzen blonden Haaren sagt nach einer längeren Pause: "Natürlich haben wir hauptsächlich mit negativen Dingen zu tun, das stimmt schon. Einbruch, Diebstahl, Raub, Verwahrlosung und vor allem Gewalt. Und in meinem Bekanntenkreis heißt es auch immer: 'Nee, ich würde deinen Job niemals machen.'" Ja, und? "Aber das ist doch mein Beruf", sagt sie und lächelt ein wenig hilflos.

Ihr Beruf ist derzeit wie kein anderer ins öffentliche Blickfeld gerückt. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo in Hamburg Polizeibeamte attackiert werden. "Einen Mordversuch", "eine schwere Straftat", "eine Attacke auf Leib und Leben" nannten Polizeiführer den Angriff auf das PK 16 an der Lerchenstraße Anfang Dezember, als Vermummte die Eingangstür verriegelten und dann versuchten, die Wache anzuzünden. Bei einer Fahrerflucht in Billstedt wurde im November ein junger Polizist 100 Meter mitgeschleift und schwer verletzt. Beim Schanzenfest hagelt es regelmäßig Steine und Flaschen auf die Beamten. "Ich hatte Angst um mein Leben", sagte Hauptkommissar Björn Buck im Juni, nachdem er, von zwei Steinen getroffen, zu Boden gesackt war. Am vergangenen Wochenende wurde einem Beamten in Barmbek von einem Randalierer der Mittelhandknochen gebrochen, in Lohbrügge versetzte ein Festgenommener einem Polizisten eine Kopfnuss.

Was ist schiefgelaufen in einer Gesellschaft und in dieser Stadt, dass sich vermehrt außer Rand und Band geratene, politisch motivierte Gewalttäter, sogenannte erlebnishungrige Jugendliche und alkoholisierte Randalierer auf Menschen wie Sabrina Lemmermann stürzen? Die nicht, wie so mancher ihrer Gegner, vermummt, sondern als Mitglied der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) ganz offen über ihren Alltag redet. Was hat dazu geführt, dass der "Freund und Helfer", die ehemalige Respektsperson in Uniform, bei so manchem zum einzigen Feindbild mutiert ist und die Hamburger Polizistin nach beinahe 20 Dienstjahren heute feststellen muss: "Auf der Polizeischule haben wir gelernt, dass die stärkste Waffe des Polizisten das Wort ist. Aber dazu kommen wir oft gar nicht mehr, weil uns sofort Aggression entgegenschlägt."

Sabrina Lemmermann blättert in dem sogenannten Verwahrbuch auf dem Empfangstresen der Wache und tippt auf den 4. Januar. Widerstand, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, illegaler Waffenbesitz, Verdacht auf Raub, Bedrohung, illegaler Aufenthalt. Daneben stehen die Namen der mutmaßlichen Täter, insgesamt wurden an diesem Tag fünf Personen in Gewahrsam genommen, die dann in einer der neun Sicherheitszellen der Wache gelandet sind. Sie sagt, dass die Hemmschwelle, was Gewalt gegen Polizisten angeht, "in den letzten Jahren erheblich gesunken" ist, und spricht von einer "gewissen Grundaggression" in "ihrem" Revier zwischen Berne und Meiendorf, Jenfeld und Rahlstedt, das tausend Straßen mit einigen sozialen Brennpunkten umfasst und in dem 130 000 Menschen wohnen.

Seit fünf Jahren ist Sabrina Lemmermann jetzt mit wöchentlich wechselnden Kollegen aus ihrer Schicht im Streifenwagen in Hamburgs Osten unterwegs, war vorher ein Jahr bei der Bereitschaftspolizei und im PK 16. Sie musste bei ihren Einsätzen "zum Glück" noch nie ihre Waffe ziehen, und ihre Fälle schafften es auch bisher nicht in die Zeitungen. Aber das ist zum einen auch ganz gut so und hat zum anderen vielleicht nur etwas mit einer Haaresbreite zu tun. Was sind denn ganz typische Alltags-Fälle? "Na ja, wenn wir zum Beispiel wegen eines Familienstreits gerufen werden", sagt sie. Weil es dort laut Anrufer "heftig zur Sache" gehen soll, sind sie mit zwei Streifenwagen hingefahren. "Auf der Straße schlugen sich schon zwei Personen. Als wir versuchten, die Kontrahenten zu trennen, kam ein junges Mädchen dazu und griff die Polizisten an. Die war kaum zu bändigen, das war unglaublich. Schließlich haben wir sie zu zweit fixiert. Zum Glück wurde niemand ernsthaft verletzt." Es stellte sich heraus, dass nach reichlich Alkoholkonsum der Vater seine Lebensgefährtin geschlagen hatte, woraufhin sich der Bruder erst mal mit dem Schwager prügelte - nur von einer Strafverfolgung wollte anschließend keiner mehr etwas wissen. "Die Wut richtete sich komplett gegen uns." Das komme jetzt häufiger vor, dass sie um Hilfe gerufen werden und sich dann einer geschlossenen Front gegenübersehen. Was blieb, war eine Anzeige gegen die 16-Jährige wegen Widerstands.

Oder sie werden von einer Frau um Hilfe gebeten, die zu einem Nachbarn geflüchtet war, weil sie von ihrem Freund bedroht wurde. Ob der sich noch in der Wohnung befindet? Eher nicht, meinte die Freundin. "Kaum hatten wir die Tür auf, flog uns auch schon ein Tisch entgegen", sagt Sabrina Lemmermann. Sie setzte Pfefferspray ein, wodurch auch ihr Kollege verletzt wurde, überwältigte und fesselte den Mann. Der brüllte: "Lass mich los, du Sau. Ich krieg keine Luft mehr." Wie oft passiert so etwas? "Jede Woche."

Wie verarbeitet sie solche Erlebnisse? "Indem ich hinterher mit den Kollegen darüber rede", sagt sie. "Und dann ist gut. Ich nehme nicht jeden Einsatz mit nach Hause." Viel mehr zu schaffen machen ihr Fälle, in denen es um Kinder geht. Ein Erwachsener könne schließlich immer noch selbst entscheiden, ob er aus dem Teufelskreis ausbrechen will. "Neulich kamen wir eher zufällig wegen einer Diebstahlsermittlung in eine Wohnung rein. Das kann sich keiner vorstellen. Die Zimmer strotzten vor Dreck, da liefen ganz viele Tiere rum, im Klo lag benutztes Toilettenpapier, im Kühlschrank verschimmelte Lebensmittel. Und im Wohnzimmer saß ein kleines Mädchen niedlich lächelnd auf einem riesigen Wäscheberg. 'Oh, eigentlich musst du ja schon lange im Bett sein', sagte die Mutter schnell zu dem Kind, als sie uns sah."

Ein Kollege von ihr war am 1. März 2005 als Erster im Brieger Weg, als in der Jenfelder Hochhauswohnung die verhungerte siebenjährige Jessica tot aufgefunden wurde. Und wenn Sabrina Lemmermann heute um Hilfe gerufen wird, weil eine 13-Jährige in ihrem Zimmer randaliert, fragt sie sich nach den Gesprächen mit allen Beteiligten, "ob nicht viel mehr die Eltern das eigentliche Problem sind".

Sie wünscht sich manchmal, dass die Politiker viel öfter auch mal hinter die Wohnungstüren gucken würden. Und wenn sie Bürgermeister wäre? "Dann gäbe es als Erstes mehr Personal für die Polizei."

Sie selbst schiebt auf ihrem Lebensarbeitszeitkonto etwa 160 Überstunden vor sich her, insgesamt sind bei der Polizei in Hamburg 800 000 Überstunden aufgelaufen. "Das entspricht zwischen 200 und 250 neuen Stellen", sagt Joachim Lenders. Der DPolG-Chef wird nicht müde, mehr Personal einzufordern. "Wir sind zu wenig, und die Politik verlangt bei gleichbleibendem Personal, dass wir immer neue Aufgaben bewältigen sollen. Das ist nicht lösbar", sagt er. Lenders plädiert wegen der zunehmenden Gewalt gegen Beamte im Alltag außerdem für eine Erhöhung der Strafandrohung von zwei auf fünf Jahre Gefängnis und verlangt von der Justiz, die Täter "deutlicher abzuurteilen". Weil es nichts Frustrierenderes gebe als Festnahmen ohne Folgen.

Der evangelische Polizeiseelsorger Frank Rutkowsky, der die Hamburger Beamten seit zwölf Jahren begleitet, sagt, dass die große Herausforderung in diesem Beruf darin bestehe, gleichzeitig entschlossen und sensibel zu sein. "Darin liegt die Kunst, das gibt es kaum in anderen Berufen." Zupacken und zuhören, den Dreck wegmachen, ohne zum Zyniker zu werden. Und nie wissen, was im nächsten Moment passiert.

Für Sabrina Lemmermann macht genau diese Ungewissheit ihren Beruf aus. Hat sie niemals Angst? "Ich würde nicht von Angst sprechen, sondern von Respekt. Denn Respekt bedeutet Vorsicht und Obacht. Angst aber impliziert auch Weglaufen, und das dürfen wir ja nicht." Das passt auch nicht zu ihrem Lebenslauf. Sie kann sich nicht daran erinnern, "dass ich früher mal vor irgendetwas weggelaufen bin". Im Gegenteil. Sie war Streitschlichterin, Klassen- und Schulsprecherin. "Und ich habe schon mit sieben gesagt, ich möchte zur Polizei - und bin dabei geblieben."

Heute ist sie eine von 1838 weiblichen der insgesamt 8146 Beamten der Schutz-, Kriminal- und Wasserschutzpolizei in Hamburg. Was sie aber weder vor verbalen noch vor körperlichen Attacken schützt. "Früher war eine Frau in Uniform für Gewalttäter oder Randalierer noch eine Hemmschwelle, das erkenne ich heute auch nicht mehr." Genauso erschreckend findet sie es, "dass verbale Gewalt uns gegenüber fast zur Normalität geworden ist", während sie selbst "nie etwas persönlich nehmen darf".

Sabrina Lemmermann neigt in ihrer ruhigen, bedächtigen Art nicht zum Dramatisieren, aber mittlerweile hat sie immer öfter das Gefühl , "dass wir der Fußabtreter der Gesellschaft sind". Das hänge auch damit zusammen, "dass sehr viele Menschen ihre Rechte mittlerweile besser kennen als ihre Pflichten".

Sie jammert nicht, weil sie sich sehr früh auf ihren Job, der ihr monatlich rund 2200 Euro netto einbringt, eingelassen hat. Auf ständige Schichtdienste, wenn die Tage und die Nächte auf den Kopf gestellt werden. Auf Wochenenddienste, die irgendwann dazu geführt haben, dass sie ihren Mannschaftssport bei den Fußballdamen vom FSV Harburg aufgegeben hat und dass ihr "nur noch ein kleiner Freundeskreis" geblieben ist.

Und wenn sie einen Wunsch für das neue Jahr frei hätte? "Ich wünsche mir mehr Respekt gegenüber der Polizei und auch unter den Bürgern - aber davon sind wir momentan weiter entfernt als je zuvor." Dabei halten laut Abendblatt-Umfrage vom März letzten Jahres 90 Prozent der Hamburger die Polizisten für "äußerst oder überwiegend hilfsbereit und sehr bürgernah". Keine andere Behörde schnitt besser ab. Polizeiseelsorger Rutkowsky sieht darin keinen Widerspruch. Der Polizeiberuf sei sehr angesehen, nur die Polizisten würden das kaum glauben, weil sie es hauptsächlich mit Personen zu tun hätten, die über ihre Anwesenheit nicht erfreut seien.

Und weil sie wegen ihrer Tätigkeit auf der Schattenseite der Gesellschaft auch nicht mit Lob überschüttet werden.

Erfahren Sie oft Dankbarkeit? Die Frage versteht Sabrina Lemmermann diesmal sofort. Und lächelt wieder etwas hilflos.