Vor 20 Jahren trafen 920 Ostdeutsche aus der Partnerstadt Dresden in Hamburg ein. Was ist von den herzlichen Begegnungen geblieben?

Sie hatten das Fenster in ihrem Abteil aufgerissen. Schon Minuten bevor der Sonderzug "Elbflorenz" mit der Nummer 23600 am Morgen des 25. November 1989 in den Hamburger Hauptbahnhof einrollte. Sie wollten die Freiheit atmen, zum ersten Mal den Wind des Westens spüren.

Sie sahen von Weitem die vielen Menschen am Bahnsteig wie Pünktchen. Hunderte, die diesen Zug erwarteten. Fremde, die Cornelia Drese und ihrem Lebensgefährten Steffen Friedrich zuwinkten. Die ihnen gleich nach dem Aussteigen um den Hals fielen, sie drückten. Wie Freunde, die nach Jahren wieder vereint waren. So wie das Land, das wenige Tage zuvor noch durch eine Mauer geteilt gewesen war.

"Wenn ich an die Ankunft in Hamburg denke, bekomme ich noch heute Gänsehaut", sagt Cornelia Drese. Sie und ihr Ehemann Steffen Friedrich, mittlerweile 52 und 55 Jahre alt, sitzen im Probenraum ihrer Musicalwerkstatt "Oh-Töne" in einem Dresdner Industriegebiet und erinnern sich. Am liebsten hätte sie schon am 9. November 1989 rübergewollt, sagt sie. Nachdem an der Staatsoperette Dresden, wo Cornelia Drese und Steffen Friedrich an jenem Abend "Alexis Sorbas" sangen, der Vorhang gefallen war. Und in Berlin die Mauer. Im Takt des Sirtaki.

Knapp zwei Wochen später fuhr das Paar dann in den Westen, gemeinsam mit 920 anderen Dresdnern. Von der Elbe an die Elbe. Von Dresden-Neustadt nach Hamburg, zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren Dresdens Partnerstadt. An der Staatsoperette sei gefragt worden, wer mit einem Nachtzug für ein Wochenende in die Hansestadt fahren wolle. Eigentlich wären die Plätze zwei älteren Kollegen aus dem Ensemble zugefallen, doch die sagten ab: "Ach, wir waren doch früher schon mal auf Konzertreise drüben. Fahrt ihr ruhig", hatten sie dem jungen Paar gesagt. "Aber ihr werdet schon sehen: Im Westen geht der Vorhang auch bloß rauf und wieder runter."

Das wollte Steffen Friedrich selbst sehen, schon auf der Zugfahrt habe er nichts verpassen wollen, erzählt er mit seiner sonoren Stimme. Stundenlang habe er aus dem Fenster geschaut, die noch wenig blühenden Landschaften vorbeirauschen sehen. Den Westen habe er gleich erkannt. "An den gedeckten Dächern", sagt Friedrich und lacht. "Alles wirkte so ordentlich. Ich fand sogar, dass die Misthaufen besser aussahen als bei uns."

Ein paar Abteile weiter saß damals Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Auch er hatte einen Platz in diesem Zug, für den die Politik die Weichen gestellt hatte. Allen voran Berghofers Hamburger Amtskollege, SPD-Bürgermeister Henning Voscherau. Kurz nach dem Mauerfall hatte der Senat die Dresdner eingeladen - und die Zusage kam kurzfristig. Nur zwei Tage bevor der Zug am 25. November morgens den Hauptbahnhof erreichte.

Die Freudentränen, die herzlichen Umarmungen, die Begeisterung, daran erinnert sich der ehemalige Bürgermeister noch heute gern. "Und an eine junge, fast mädchenhafte Frau, die allein und verloren auf dem Bahnsteig stand. Ich habe sie spontan angesprochen und in Hamburg willkommen geheißen", erzählt Henning Voscherau. Noch immer hält er den Kontakt. "Kiki" lebt mittlerweile als Erzieherin in Ludwigsburg.

"Das Aufregendste war, dass man gar nicht wusste, bei wem man landet", sagt Cornelia Drese. Mit Steffen Friedrich landete sie in Altona bei einem jungen Paar. Die "Gasteltern" hatten sich wie fast 2000 andere auf einen Aufruf im Abendblatt gemeldet. Die beiden hätten ihnen gleich alles zeigen wollen, Hamburg in 24 Stunden. Die Alster, die Kaufhäuser an der Mö, den Hafen, die Reeperbahn. "Dabei hatten wir nur einen einzigen Wunsch", sagt Cornelia Drese. "Wir wollten doch nur einmal im Leben das Musical ,Cats' sehen."

Davon hatte sie schon als Schülerin an der Musikhochschule in Ost-Berlin geträumt. Eine Freundin, damals Tänzerin im Friedrichstadtpalast, hatte die Noten des verbotenen "West-Musicals" nach einer Auftrittsreise eingeschmuggelt, ein Freund, der im Ministerium des Inneren arbeitete, die Notenblätter für Cornelia Drese kopiert. "Wenn das damals aufgeflogen wäre ...", sagt sie und verdreht die Augen. "Aber wir waren jung und unerschrocken. Man könnte auch sagen: ein bisschen naiv."

Sie blickt auf einen Schaukasten im Flur. Und auf das Kostüm darin, ihr Kostüm. Denn aus der Zuschauerin, die am Abend des 25. November 1989 tatsächlich im Hamburger Operettenhaus in einer der vorderen Reihen saß, wurde ein Musical-Star. Schon an jenem Abend, als die alternde Katzenfigur Grizabella "Erinnerung" schmetterte, hatte Steffen Friedrich seiner Freundin zugeflüstert: "Das kannst du besser." Im Januar 1990 bewies sie es, bei einem Vorsingen in Wien. Danach schlüpfte sie mehr als 1600-mal in die Rolle der Grizabella - in Hamburg. "Die Stadt wurde unsere zweite Heimat", sagt Cornelia Drese. Elf Jahre wohnte das Paar an der Großen Bergstraße, auch Steffen Friedrich gehörte zeitweise zum Hamburger "Cats"-Ensemble. Sohn Martin (30) blieb in "seiner Heimatstadt", als die Eltern 2001 in ihre Heimatstadt zurückzogen, in Dresden ihre Musicalwerkstatt gründeten. "Die Wende ist das Beste, was uns passieren konnte", sagt Steffen Friedrich, der gerade an der Chemnitzer Oper "Evita" probt. Weil die Wende ihnen die Freiheit gab, die private und berufliche Bühne zu erweitern.

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Dresden-Prohlis, eine Plattenbausiedlung am Stadtrand. Sechs- bis 17-stöckige Hochhäuser. Ingrid und Jürgen Eggert sitzen in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung, in der sie seit 1977 leben. Die Wende gab ihnen die Freiheit zu entscheiden, wo sie leben möchten. Sie blieben in Dresden.

Auf dem Tisch liegt ein Fotoalbum. Darin haben sie Zeitungsartikel und Fotos gesammelt. Von der Ankunft in Hamburg, am Morgen des 25. November 1989. Und von der Abfahrt am Abend des 26. November. Wie es im Westen aussehen würde, das wussten die Eggerts schon. Wenige Wochen vor dem Mauerfall hatte Jürgen Eggert, damals Intendant an der Staatsoperette Dresden und damit der Chef von Cornelia Drese und Steffen Friedrich, seine Mutter in Köln besuchen dürfen. "Viele aus meiner Familie waren im Laufe der Jahrzehnte ausgereist", sagt der 65-Jährige, während er in dem Album blättert. "Aber Ingrid und ich haben immer gesagt: Wir bleiben in der DDR. Wir sind die Letzten, die hier das Licht ausknipsen."

Das Leben sei ausgefüllt gewesen - mit dem Beruf: zunächst als Produktionsleiter beim DDR-Fernsehen, später an der Staatsoperette. Und mit dem Familienleben, mit den beiden Söhnen. "Vielleicht", sagt Ingrid Eggert leise, "fehlte uns aber auch die Courage zu gehen. Wir hatten uns mit dem System arrangiert."

In den vergangenen Jahren ist viel passiert, ein bisschen auch um das Leben des Ehepaars Eggert herum: "Wir wohnen immer noch in derselben Wohnung, und auch unsere Arbeitsplätze sind die Gleichen geblieben." Das Dresdner Kulturamt, wo Ingrid Eggert 25 Jahre lang angestellt war. Und die Staatsoperette, an der Jürgen Eggert bis zu seiner Pensionierung im März 2009 tätig war. Und doch ist etwas dazugekommen. Der jährliche Besuch in Hamburg. "Ich habe mich damals auf den ersten Blick in die Stadt verliebt", sagt Ingrid Eggert. "Ich habe die Alster gesehen und gedacht: Mensch, hier könnte ich auch leben."

Außerdem seien die Hamburger so herzlich gewesen, so aufgeschlossen. Ganz anders, als es den Norddeutschen im Rest der Republik so oft nachgesagt wird. Mit ihren "Quartiersleuten", mit Karin und Michael Laufer aus Winterhude, haben sie sich sofort verstanden. Bis heute sind sie eng befreundet, pflegen einen privaten Austausch zwischen Hamburg und Dresden und fahren sogar regelmäßig gemeinsam in den Urlaub. Jürgen Eggert zeigt ein selbst gestaltetes Plakat mit Bildern aus den letzten Mallorca-Ferien der Paare. "Es ist wie ein Wink des Schicksals, dass wir vier uns begegnet sind."

Die Wende habe ihnen viel Gutes gebracht. Aber natürlich gebe es viele Ostdeutsche, die mit Rückschlägen zurechtkommen mussten. Auch in der eigenen Familie. Sohn Matthias, 43 Jahre alt, gehört dazu. Der gelernte Tischler leitete einen sogenannten Jugendklub in der DDR. Plötzlich gab es den Staat nicht mehr, und den Jugendklub natürlich auch nicht. Matthias Eggert schulte auf Ergotherapeut um - und fand auch danach in Dresden monatelang keine Arbeit. "Das war frustrierend, die Umstellung auf das Leben in einem neuen Land nicht immer leicht."

Ingrid Eggert schaut auf den Kalender an der Küchenwand. Der 24. und 25. November sind rot eingekreist. Dann werden sie feiern. In Hamburg natürlich, mit den Laufers. 20 Jahre Mauerfall und 20 Jahre Freundschaft. "Aber dieses Mal reisen wir mit dem Auto an", sagen die Eggerts. Die Zugfahrt im November 1989 war einmalig.