Warum sich manche Türken integrieren und andere nicht: Provokante Thesen des Politikers Thilo Sarrazin lösen Debatte aus.

Hamburg. Für Sarrazin stellt sich die Situation der Einwanderer und ihrer Kinder dramatisch dar. Er, der mittlerweile von der Bundesbank, seinem neuen Arbeitgeber, abgestraft wurde, sprach von Berliner "Kopftuchmädchen" und Schulversagern. Wie leben Türken in Hamburg? Eine Spurensuche. Draußen rollt der Verkehr auf der Billstedter Straße vorbei, drinnen, im Kentucky Fried Chicken, scheint Ahmet Geyik und Ismail Ceylan die Sonne ins Gesicht. Sie sitzen in einer Sitzecke direkt an der breiten Fensterfront. Das Fastfood-Restaurant gehört ihnen, genau wie drei weitere in Hamburg. "Wir haben es geschafft", sagt Ceylan, 41, und lehnt sich zurück. Sein Partner nickt und sagt: "Hamburg ist nicht Neukölln."

Der Problem-Stadtteil in Berlin ist wieder einmal in aller Munde. Auch bei den Türken und Deutschtürken in Hamburg, sie hatten in den vergangenen Tagen eigentlich sogar nur dieses eine Thema. Sie sind gekränkt. Wie kommt jemand wie der ehemalige Politiker und jetzige Bundesbank-Angestellte Thilo Sarrazin nur dazu, pauschal ihre Landsleute abzuurteilen? "Auch wenn er explizit von Neukölln gesprochen haben sollte - er hat jeden Türken mit seiner Aussage getroffen", sagt Geyik, der seit 1979 in Hamburg lebt. Damals holten ihn seine Eltern nach, nachdem er in Istanbul seinen Schulabschluss gemacht hatte. Er lernte schnell Deutsch, machte zwei Lehren und danach sich selbstständig. Mit Ceylan gewann er einen Partner, der genauso zielstrebig ist. Bei ihm folgten frühen Jahren in Franken ein paar in der Türkei, dann kam er nach Hamburg - wo die Eltern bereits lebten. Zuerst Haupt-, dann Realschule, danach Abitur. Ausbildung zum Medizinisch-Technischen Assistenten, Abbruch des Medizinstudiums. Ceylan und Geyik hatten Unternehmermut. Und "gesunde Familienverhältnisse" , wie Ceylan sagt. Sie hätten immer in beiden Kulturen gelebt, in einer Art Synthese. "Wir waren nicht so plietsch und haben das selbst gesteuert, das war unser Umfeld", sagt Ceylan. Er sagt "plietsch" und meint clever, er ist Hamburger.

Dagegen hat Osman Tekiroglu wenig Sinn für die Feinheiten der deutschen Sprache. Mit seinem Cousin steht er vor dem Media-Markt in Billstedt - eine Art Treffpunkt für den Stadtteil. Sein Deutsch ist fließend, aber er hat wenig übrig für die deutsche Kultur. "Ich habe noch nie gearbeitet und fühle mich mit der deutschen Kultur nicht verbunden, denn ich bin und bleibe Türke - mit einer ganz anderen Mentalität", sagt der 34-Jährige. Er hat eine Ausbildung gemacht und danach offensichtlich keine Anstellung gefunden. Bei der Frage, wovon er denn jetzt lebt, winkt er ab. Kein Kommentar. Eine Gruppe junger Türken kommt vorbei. "Sarrazin?" Sie fangen an zu lachen. "Deutschland ist schön, weil wir hier Geld bekommen", sagt eine junge Frau. Dann gehen sie weiter. Serkan Kartal bekommt auch Geld in Deutschland - für harte Arbeit.

Das sind die dynamischsten Städte Deutschlands

Er ist hier geboren, 26 Jahre alt und führt an der Großen Bergstraße mehrere Bäckereien und Lebensmittelgeschäfte. Hier gibt es Sesamkringel und türkischen Tee, Kekse vom Bosporus und viel Gemüse. Auf den Lebensmittelverpackungen leuchtet der rote Halbmond, Geschäftsführer Kartal rührt in seinem Tee und sagt: "Ich habe deutsche und türkische Kunden, ich bin gleichzeitig Deutscher und Türke." Die Eltern sind seit 40 Jahren hier, sie ziehen sich langsam zurück aus den Geschäften, und so trägt Kartal schon in jungen Jahren viel Verantwortung. "Er ist ein guter Junge", sagt sein Vater, der gerade vorbeikommt, "er tut immer seine Pflicht." Seit drei Jahren hat Kartal nicht mehr Urlaub gemacht. Er hat 14 Mitarbeiter und arbeitet trotzdem viel, er ist fleißig. Klingt ziemlich deutsch, fast klischeehaft. Jedenfalls nicht nach einem, der "keine produktive Funktion" für die Gesellschaft ausübt. Das hat Sarrazin den türkischen Einwanderern vorgeworfen. Wenn man Kartal nun fragt, was "Integration" für ihn bedeutet, dann sagt er: "Ich empfinde mein besonderes Leben als einen Gewinn" und meint die Mischung aus zwei Kulturen. Er kennt Männer, die ihre Frau aus der Türkei importieren. Frauen, die kein Deutsch können und in Familien heiraten, die oft nur unter sich bleiben. Serkan würde das nie machen. Er hat auch mal eine deutsche Freundin gehabt, er spielt Fußball und trinkt manchmal Alkohol. Er geht nur selten in die Moschee. Wenn er später mal Kinder hat, will er mit ihnen zu Hause Türkisch sprechen. "Deutsch lernen sie draußen."

Draußen, das ist da, wo Malte Block arbeitet. Auf der Straße, am Hauptbahnhof. Block, 37, ist Streetworker in der Landesarbeitsgemeinschaft der Straßensozialarbeiter in Hamburg. Er hat viel mit deutschen Großstadt-Kids zu tun und oft auch mit deutschtürkischen. Die sind zunächst misstrauisch, sagt Block, er trifft sie nur in Gruppen an. Aber manchmal erzählen sie auch mal etwas von zu Hause. Dann merkt Block, dass sie zwei Leben führen: eines mit der Familie, eines mit den Kumpeln. Ein Generationenkonflikt sei das, sagt Block, "aber alle Eltern wollen das Beste für ihren Jungen". Der hat trotzdem manchmal Probleme in der Schule oder lungert auf der Reeperbahn herum. Vielleicht, weil er keine Lehrstelle bekommen hat, vielleicht, weil er grundsätzlich nichts mit sich anzufangen weiß. "Manchmal können die Eltern nicht helfen, weil sie das System in Deutschland selbst nicht beherrschen, weil sie nicht wissen, welche Angebote es gibt", sagt Block. Neukölln hat der Sozialarbeiter nicht in Hamburg gefunden, er sagt trotzdem: "Sarrazin hat Probleme benannt und eine mögliche Lösung gleich mit angesprochen. Wir müssen noch mehr für die Integration tun, gerade im Bereich Bildung."

Aber was heißt das denn: integriert? Apo Icel fragt sich das jetzt auch. "Ich weiß nicht, ob ich gut integriert bin", erklärt der 18-Jährige mit dem deutschen Pass und dem Nebenjob im Gemüseladen seines Onkels. Dann sagt er, dass er auch deutsche Freunde habe, aber "die machen ihr Ding und wir machen unseres". Genau das kritisiert Ali Ceylan, Chef eines türkischen Restaurants in Billstedt. "Sarrazin hat recht, viele Türken, die schon lange in Deutschland leben, haben ihren Kopf noch in der Türkei", sagt der 40-Jährige. Es sei leider tatsächlich so, dass junge Mädchen aus Anatolien nach Deutschland geholt und hier verheiratet werden, sagt Ceylan. Und er ärgert sich über alle Ausländer, "die bei mir noch nicht mal einen Döner bestellen können, weil ihr Deutsch zu schlecht ist".

Schlechtes Deutsch, damit hat Suat Aytekin (35) auch reichlich Erfahrungen. Er ist Lehrer der Julius-Leber-Gesamtschule in Schnelsen. "Verantwortung für dieses Land ist wichtig, so etwas wie Lokalpatriotismus notwendig", sagt er. "Viele Kinder sind innerlich immer noch in der Türkei oder Arabien, obwohl sie hier geboren sind. Sie fühlen sich nicht angenommen." Sarazzins Thesen unterschreiben will er nicht. Aber: "Sie führen dazu, dass über Integration gesprochen wird." Und er selbst? "Ich habe meine Wurzeln in Deutschland, obwohl ich nicht leugnen kann, dass ich Türke bin", sagt Aytekin. Auch sein neunjähriger Sohn spricht beide Sprachen - er ist in Hamburg geboren.

Aydan Özoguz, 42, ist ebenfalls gebürtige Hamburgerin. Die SPD-Politikerin ist gerade in den Bundestag gewählt worden. Integration ist ihr politisches Lebensthema - sie ist nicht bereit, Menschen wie Sarrazin das Feld zu überlassen. Studium, Einstieg in die Politik: Sie ist das beste Beispiel für eine erfolgreiche Migrantenkarriere. Und erlebte trotzdem Diskriminierung. "Wenn man als Kind als Ausländer beschimpft wird, vergisst man das nicht", sagt sie. Was aber nicht bedeutet, dass Özoguz nicht auch Defizite bei den Zuwanderern sieht. "Es gibt Gruppen, die sich nicht integrieren wollen." Die Gesellschaft habe das Recht, Anforderungen zu stellen. "Aber man kann nicht Sprachkurse kürzen und sich dann beschweren, dass die Menschen kein Deutsch lernen."

Kürzlich ist Ismail Ceylan, der Unternehmer aus Billstedt, am Hauptbahnhof ein ehemaliger Schulkamerad über den Weg gelaufen, er stammt wie er aus der Türkei. Ceylan hat ihn erst nicht wiedererkannt. Der alte Freund ist heroinabhängig. "Er ist auf der Strecke geblieben", sagt Ceylan, und weiter nichts. Weil er es nicht verstehen kann.