Die Proteste gegen das Sparprogramm der Athener Regierung haben ihre ersten Todesopfer gefordert. In den Flammen der Marfin-Bank starben drei Menschen.

ATHEN. Sonne hatte der Wetterbericht den Athenern vorhergesagt, eine freundliche Kulisse für den großen Generalstreik, mit dem die Gewerkschaften gegen die Sparpolitik der sozialistischen Regierung protestieren wollen. Aber jetzt, am Nachmittag, verdunkeln schwarze Rauchwolken den Himmel über der Akropolis. Am Syntagmaplatz lodern die Flammen.

Mit Molotowcocktails, Holzknüppeln, Steinwürfen und Eisenstangen versuchen einige Hundert Chaoten das Parlamentsgebäude zu stürmen. Sie erreichen fast die Treppe, die zum Eingang des klassizistischen Baus hinaufführt, dann schlägt die Polizei mit massivem Tränengaseinsatz den Angriff zurück. Wenig später stecken Demonstranten mit Molotowcocktails zwei Bankfilialen in Brand. Eine davon ist die Marfin-Bank.

Als die Flammen in der Filiale gelöscht sind, machen die Feuerwehrleute eine schreckliche Entdeckung: Im Treppenhaus des klassizistischen Gebäudes finden sie drei rußgeschwärzte Leichen. Wie dort die drei Menschen ums Leben kamen, ist zunächst unklar. Vielleicht waren es Kunden, vielleicht Angestellte. Offenbar versuchten sie, über die Treppe aus dem brennenden Kassenraum in eines der oberen Stockwerke zu fliehen, wurden aber vom Rauch überwältigt.

In den Seitenstraßen liefern sich Polizei und Autonome unterdessen immer wieder Scharmützel, Autos und Müllcontainer gehen in Flammen auf. Bilder, die an das Chaos vom Dezember 2008 erinnern, als Athen nach dem Todesschuss eines Polizisten auf einen 15-Jährigen tagelang von schweren Unruhen erschüttert wurde. Damals blieb es bei Sachschäden. Droht das Land, das gegen den Staatsbankrott kämpft, jetzt ins politische Chaos zu taumeln?

Mehr als 100 000 Menschen demonstrieren in Athens Straßen

Friedlich, fast fröhlich hatte der Protest am Vormittag begonnen. Musik dröhnt aus den Lautsprechern, das Echo der Sprechchöre hallt dutzendfach durch die Straßen, aber Napoléon Papadopoulos bringt das nicht aus der Ruhe. Er sitzt in seinem "Periptero", seinem Kiosk, an der Stadiou-Straße, und sieht dem Protestmarsch zu. Die Demonstranten wollen zum Parlamentsgebäude am Syntagmaplatz. Dort beraten die Abgeordneten seit Dienstag über das Sparprogramm der sozialistischen Regierung. Am Donnerstag sollen die Spargesetze verabschiedet werden. Das wollen die Demonstranten verhindern.

"Keine Opfer für die Plutokratie", rufen sie und schwenken Fahnen des kommunistischen Gewerkschaftsbundes PAME. "Gewerkschaftsgymnastik", sagt Napoléon Papadopoulos mit einem spöttischen Lächeln. Es sind allerdings ziemlich viele, die sich diesmal an den Leibesübungen betätigen - ein richtiger Volkssport: Zehntausende ziehen die Stadiou-Straße hinauf. Und vom Marsfeld, ein paar Kilometer entfernt, hat sich ein zweiter Protestzug des gemäßigteren Gewerkschaftsbundes GSEE in Bewegung gesetzt. Auch sein Ziel ist das Parlament. Mehr als hunderttausend Menschen sind in Athen heute auf den Beinen. Es ist die größte Demonstration seit Jahrzehnten. Griechenland ist gelähmt an diesem Mittwoch: Busse und Bahnen bleiben in den Depots. Bei Ämtern und Behörden, in den Ministerien und in den Schulen ruht die Arbeit. Kein Fährschiff legt ab, kein Flugzeug startet oder landet. Sogar die Parlamentsdiener und die Journalisten streiken. "Wir sind nicht die Sklaven des 21. Jahrhunderts", skandieren die Demonstranten.

"Übertrieben" findet das der Kioskbesitzer Napoléon, aber auch er bekommt die Krise zu spüren: "Um 20 bis 30 Prozent ist mein Umsatz zurückgegangen", sagt er. Aber die Sparmaßnahmen seien "sehr berechtigt - das hätte die Regierung schon vor Jahren machen müssen!" Ein Kunde mischt sich ein: "Zahlen müssen doch immer nur die kleinen Leute", klagt der Rentner Giannis, der für seine Packung Filterzigaretten, die früher drei Euro kosteten, demnächst wohl fünf Euro bezahlen muss. "Mit elf Jahren habe ich angefangen zu arbeiten, in den Salinen meiner Heimatstadt Messolongi, jetzt bin ich 73, und seit zehn Jahren bekomme ich Rente, 850 Euro", erzählt er. "Leben kann ich davon nur, weil meine Frau vor acht Jahren gestorben ist." Und jetzt wolle ihm die Regierung auch noch das Weihnachtsgeld streichen, klagt der Rentner und meint: "Man kann ein Land auch kaputtsparen!"

Oder man streikt es kaputt. Das versuchen jetzt die griechischen Kommunisten. Schon vor einigen Tagen hat Aleka Papariga, die Generalsekretärin der kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) angekündigt, man werde künftig auch "außergesetzliche" Aktionen machen. "Klassenkampf bis zum Sieg", steht auf einem der Transparente, "Erhebt euch gegen das Kapital", rufen die Demonstranten. "Unter revolutionärem Gesichtspunkt ist die Entwicklung sehr positiv", erklärt die 21-jährige Amalia, die im zweiten Jahr an der Athener Hochschule für Landwirtschaft studiert. "Wir wollen die Revolution, und je tiefer das Land in die Krise stürzt, desto näher kommt die Diktatur des Proletariats."

Die Lage ist bis zum Äußersten gespannt

Und wenn Griechenland Staatsbankrott anmelden muss? "Das würde die revolutionären Umwälzungen sogar noch beschleunigen", freut sich Amalia. Sie verkauft am Rand der Demo das KKE-Zentralorgan "Rizospastis" (Radikalist). Wer die Zeitung kauft, erfährt auf Seite drei übrigens, dass heute der 192. Geburtstag von Karl Marx ist. "Widerstand gegen das Kapital und seine Diener", tönt es aus den Megafonen. Viele Demonstranten haben rote Fahnen dabei. Sie sind an armdicken Holzknüppeln befestigt, die auch als Schlagwerkzeuge taugen. Manche tragen schwere Rucksäcke. Man glaubt, Benzin zu riechen - Molotowcocktails? Wenig später eskaliert die Demo: Vor dem Parlament fliegen Steine, Brandflaschen lodern auf. Eine Gruppe von etwa 100 militanten Demonstranten versucht das Parlament zu stürmen. Die Polizei kann sie zunächst mit Tränengas und Pfefferspray abwehren, aber am Nachmittag werden weitere Zwischenfälle aus anderen Stadtteilen gemeldet.

Die Regierung steht mit dem Rücken zur Wand. Nur wenn sie das Sparprogramm durchzieht, fließen die Hilfskredite der EU und des Internationalen Währungsfonds. Und ohne die kann der Finanzminister schon im Juni keine Gehälter und Renten mehr zahlen. Schon gibt es allerdings Zweifel, ob die zugesagten 110 Milliarden für die kommenden drei Jahre überhaupt reichen, weil sich bereits neue Milliardenlücken in der Finanzplanung abzeichnen.

Der Kioskbesitzer Napoléon hat seine Finanzen offenbar besser im Griff. Vier Söhne hat er mit den Einnahmen aus dem Kiosk großgezogen, der älteste ist Zahnarzt, die drei jüngeren studieren noch. "Und das alles, ohne jemals einen Kredit aufzunehmen", sagt er stolz. Man müsse eben sorgfältig wirtschaften, damit man über die Runden komme. "Immer von Krediten leben, wie der Staat und viele Bürger es tun, das kann doch auf die Dauer nicht gut gehen", ist seine Philosophie. Genau deshalb sei der Staat jetzt pleite. Und weil er viel zu viele Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst beschäftige, die dann viel zu früh in Rente gingen: "Nehmen Sie meinen Schwager Dimitris, der war Polizist. Vor zehn Jahren ist er in Pension gegangen - mit 50! Seitdem bekommt er jeden Monat 1500 Euro Rente - so etwas können wir uns doch nicht leisten!"

So denkt nicht nur Napoléon. Jeder dritte Grieche, so eine aktuelle Umfrage, ist für das Sparprogramm. Jeder zweite ist zwar dagegen. Aber immerhin acht von zehn Befragten sehen in der Krise die Chance, Griechenland zu reformieren, das politische System und die Wirtschaft auf neu aufzustellen. "Wir schaffen das", sagt der Kioskbesitzer. Da wissen wir noch nichts von den Toten. Napoléon Papadopoulos macht dann eine Pause, als sei er sich vielleicht doch nicht so sicher. "Wir müssen es einfach schaffen", sagt er. Aber da hört man in den Nebenstraßen schon wieder das Knallen der Tränengasgranaten, neue Rauchsäulen steigen auf.