Rüdiger Nehberg wurde als hartgesottener Überlebenskünstler bekannt - doch er ist viel mehr. Unablässig bringt er seine Ideen zu Papier.

Hamburg. Ein erstes frisches Grün ist an den alten Bäumen aufgeflammt; auf dem See haben Wildenten die schwimmenden Nistinseln bezogen. Ringelnattern gleiten durch die Uferzone, ignoriert von behäbigen Forellen. Die warme Luft zittert unter dem akustischen Ansturm liebestrunkener Singvögel und des kleinen, aber heftig rauschenden Wasserfalls.

Rausdorf bei Trittau im Kreis Stormarn, 235 Einwohner auf knapp fünf Quadratkilometern. Auf einem gut fünf Hektar großen Grundstück, durchzogen von Wasserflächen, gesäumt von altem Baumbestand, erhebt sich eine ehemalige Wassermühle, 400 Jahre alt, liebevoll aus Ruinen restauriert vom gegenwärtigen Hausherrn. Der steht auf dem Balkon und blickt, sozusagen von seines Daches Zinnen wie einst der König von Samos, auf sein geliebtes Anwesen hin. Heute wird Rüdiger Nehberg 75 Jahre alt - als "Sir Vival" der Doyen unter Europas Überlebensexperten, vor allem aber engagierter Menschenrechtler.

Alles hier hat er selber gebaut, restauriert und angelegt. Das Planmodell des Grundstücks hatte der Konditormeister einst aus Teig geformt. Die gemütlichen, in dunklem Holz ausgebauten Innenräume zeugen von einem prallen Leben. An Wänden und Decke hängen Pfeile der Regenwaldindianer, eine Messersammlung, Pistolen, Fischreusen und vieles mehr. Tonnenweise Findlinge hat er dem schweren Boden entrungen - und hat die Plackerei kürzlich mit einem Metallknie bezahlen müssen. "Das Ding quietscht immer", beklagt er sich, "ich werde wohl viel fette Pommes essen müssen, um es zu ölen." Überhaupt merke er doch allmählich sehr den Kräfteabbau; sagt der Mann, der Dschungel, Ozeane und Wüsten im Alleingang bezwungen hat.

Er schipperte auf einem Baumstamm über den Atlantik, seilte sich kurz vor seinem 70. Geburtstag im brasilianischen Dschungel vom Hubschrauber ab und tauchte tausend Kilometer, etliche Jaguare und viele Giftschlangen weiter wieder auf. Das 20.000-Seelen-Volk der brasilianischen Yanomami-Indianer rettete er vor der Vernichtung durch schwer bewaffnete Goldsucher - als hätte er ein Vorbild für die Story des Megafilms "Avatar" liefern wollen.

Immer noch breitschultrig und mit bärenhafter Umarmung, klagt er auf hohem Niveau. "Kräfteabbau? Ich frage mich nur, wo?", sagt seine Frau Annette, groß schlank, attraktiv, Nehbergs Alter Ego, ein Vierteljahrhundert jünger als er und Mitstreiterin seit 13 Jahren. Leben mit Rüdiger - das sei "Survival pur". Nicht nur wegen seiner Energie, die keinen Deut nachgelassen habe, sondern auch deshalb, "weil Rüdiger bei allem, was er getan hat und tut, ein Pionier ist. Man hat keine Vergleichserfahrung, und das ist sehr anstrengend".

Unablässig produziere ihr Mann Ideen und bringe sie zu Papier. "In unserer Ehe sind seine wichtigsten Worte für mich: ,schreib das auf'", grinst Annette. "Du lebst doch noch", knurrt Rüdiger und räumt dann mit liebevollem Blick ein, dass er das alles ohne Annette gar nicht zustande gebracht hätte. Seit mehr als einem Jahrzehnt beherrscht ein Thema das Leben der beiden Menschenrechtler: ihr Kampf gegen den bestialischen Ritus der Mädchenbeschneidung, der vor allem in einigen islamischen Ländern verbreitet ist. "Es ist der furchtbarste Bürgerkrieg der Geschichte", sagt Nehberg, "er tobt seit 5000 Jahren. Weltweit werden noch immer mehr als 8000 Frauen beschnitten - und zwar pro Tag". Die beiden haben mit eigenen Augen gesehen - und erstmals gefilmt - was da bei den Mädchen geschieht.

Dem hartgesottenen Überlebenskünstler, der klaglos Vogelspinnen zerkaut, wenn es nötig ist, treibt es die Tränen in die Augen. Wie den vor Angst schreienden Kindern die Beine auseinandergezwungen werden, wie Beschneiderinnen ohne Betäubung Klitoris und Schamlippen mit Glasscherben oder rostigen Raserklingen abtrennen, wie die blutenden Wunden grob zusammengenäht oder mit Dornen zusammengesteckt werden. Meist ist die verbleibende Öffnung klein wie ein Reiskorn, sodass Menstruationsblut und selbst Harn nicht abfließen können. Jedes dritte Mädchen stirbt unter Qualen. In der Hochzeitsnacht trennen die Männer die vernähte Scheide mit dem Messer auf, und weil sie noch nie eine Frau gesehen haben, stoßen sie nicht selten bis zum Darm durch. Der Kot tritt dann aus der Scheide aus, die Frauen sind eine einzige entzündete Wunde; die meisten sterben.

Das muss man einfach wissen, wenn man die Intensität begreifen will, mit der Nehberg diesen barbarischen Brauch bekämpft. Keine Organisation der Welt hat dabei derartige Fortschritte zu verzeichnen wie die von den beiden Nehbergs gegründete Organisation Target. Ihr Erfolg fußt auf einer genialen Idee. Nehbergs Ansatz war, dass die Beschneidung aus vorislamischer Zeit stammt, gar nicht im Koran steht und damit der koranischen Feststellung, dass Gott den Menschen perfekt geschaffen habe, zuwiderläuft. Er kritisiert den Islam nicht, er arbeitet mit dem Islam gegen die Beschneidung.

Man muss Nehberg erleben, um zu begreifen, warum sich das Volk der Afar in der äthiopischen Danakil-Wüste seinen Argumenten anschloss und die Sitte unter Strafe verbot. Warum die Al-Azhar-Universität in Kairo, das bedeutendste Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, höchste Würdenträger aus aller Welt zusammenrief und die Beschneidung in einer Fatwa verurteilte. Warum auch Jussuf al-Qaradawi, einer der einflussreichsten islamischen Kleriker der Welt, nach einem Gespräch mit Nehberg die Frauenbeschneidung als "Teufelswerk" geißelte.

Rüdiger Nehberg überträgt seine starken, ehrlichen Gefühle ungebremst auf den Zuhörer, der von einem emotionalen Stromstoß getroffen wird, plötzlich selber mit nassen Augen dasitzt und kaum noch anders kann, als ihn zu unterstützen. Viele Menschen helfen Target inzwischen, sodass Nehberg einen Arztwagen für ambulante Hilfe in Äthiopien herumfahren lassen und derzeit am Rand der Danakil-Wüste eine kleine Geburtsklinik bauen lassen kann ("Es gibt da Gebiete, da stirbt jedes zweite Kind"). Den Beschluss aus Kairo hat er in einem kostbaren Goldenen Buch niederschreiben lassen und lässt es in der islamischen Welt verteilen, um die frohe Botschaft in jedes Dorf zu tragen. Vier Millionen Exemplare sollen es werden - wenn die Spenden reichen. Aus vielen islamischen Staaten liegen bereits dringende Anfragen vor.

Nehberg fährt im Juni nach Mali und hat schon um eine Audienz beim saudischen König ersucht, um auch den Hüter der heiligen Stätten von Mekka und Medina auf seine Seite zu ziehen. Für Rüdiger und Annette ist nicht das Bundesverdienstkreuz, das sie für ihr Engagement erhielten, der schönste Lohn. Den streichen sie vielmehr ein, wenn geläuterte Beschneiderinnen zu ihnen kommen und ihnen die vielen unbeschnittenen Mädchen bringen, die sie von nun an nicht mehr verstümmeln, sondern wie Löwinnen vor dem Schicksal ihrer Müttergeneration beschützen. Viele junge Menschen sind heute auf der Suche nach Vorbildern mit Zivilcourage. Hier ist eines.

Herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtstag, Rüdiger Nehberg!