Einst verruchte Meile wird zum luxuriösen Wohn- und Büroquartier. Trotz alledem bleibt die Große Elbstraße eine tolle alte Hamburger Dame.

Hamburg. Hui, war das immer aufregend. Manchmal auf dem Weg aus der Stadt nach Hause fuhr mein Vater nicht wie sonst hoch zur Palmaille, sondern blieb unten am Elbufer. Wir drei Kinder auf der Rückbank wussten, was kommt, und starrten aufgeregt ins Dunkle. Wir sahen unbeleuchtete Speicher, Lagerhallen, davor Laster. Es roch nach Fisch. Dann sahen wir sie am Straßenrand: Frauen, hübsche Frauen. Mit tiefen Ausschnitten und hohen Absätzen. Knallrot leuchtete hier und da ein Lederstiefel. Ein Wagen hielt, der Fahrer kurbelte das Fenster herunter ...

Spätestens jetzt wurde es meiner Mutter zu viel. "Aber Klaus! Die Kinder ..." Seufzend gab mein Vater Gas, nahm mit Schwung die scharfe Rechtskurve am Ende der Straße, bog scharf nach links ab - und die Elbchaussee lag vor uns. Hell beleuchtet ging es nun bis nach Blankenese. Unser Ausflug in die verruchte Halbwelt war zu Ende.

52 Jahre bin ich jetzt alt und habe fast mein ganzes Leben in Hamburg verbracht. Ich schreibe Reiseführer über meine Heimatstadt und kenne viele schöne Orte. Doch keine andere Straße lässt mich so oft nach- und zurückdenken wie die Große Elbstraße. Mal werde ich melancholisch, mal sehr fröhlich und in den letzten Jahren immer mal wieder stinksauer.

Zum Beispiel wenn ich wie an diesem Freitagnachmittag aus Blankenese in die Innenstadt radele. Bis Övelgönne ist alles prima. Hamburg pur. Neumühlen heißt die Straße hier, und kurz nach dem zu einem Altenheim umgebauten Kühlhaus, dem Augustinum, beginnt das Elend. Ein Glas-Metall-Klotz neben dem anderen, wenige Wohnungen, zwei schicke Restaurants, leer stehende Büros. Am Ende von Neumühlen, dort, wo es links den steilen Berg hoch zur Elbchaussee geht, beginnt die Große Elbstraße. Direkt davor bebauen sie nun auch noch die zweite Reihe mit einem Luxushotel. Klar, es gab ja noch ein paar Meter Freiraum, der zugestellt werden musste.

Es ist erst ein paar Jahre her, da wollten wir abends noch mal los. Musik hören, ein Livekonzert im Hafenbahnhof. Was war das für eine Stimmung! Man saß draußen, trank sein Bierchen, guckte auf die Elbe. Musik wummerte im Hintergrund, der Laden war brechend voll. Das winzige Lagergebäude aus der Zeit, als hier noch die Schellfischbahn rollte, gibt es immer noch. Doch was haben sie nur damit gemacht? Wie eingegraben liegt der Pavillon da. Neulich war ich in Berlin. Dort auf dem Alexanderplatz hatte die SED nach dem Krieg den Boden rund um die Marienkirche aufschütten lassen. Was tiefer liegt, sieht man weniger, dachten sich die Parteibonzen wohl. Dort wie hier ist es schiefgegangen, die Kirche hat sich die DDR-Zeit durch lebendig erhalten, und im Hafenbahnhof ist heute fast genauso viel los wie damals. Doch statt aufs Wasser starrt man jetzt auf die Mauer der höhergelegten Straße. Die war nötig, damit die Angestellten der beiden wohl langweiligsten Bürobauten Hamburgs bequem und mit Elbblick in die Tiefgarage rollen können: Columbia Towers heißen die gelben Türme, einer steht fast komplett leer. "Reines Abschreibeobjekt", schimpfen die Jungs vom Hafenbahnhof. Spontaner, aber politisch unkorrekter Einfall: "Mal eine schöne Bürobesetzung?"

Ich radele weiter, gleich rechts die große alte Kühlhalle steht noch, aber nicht mehr lange. Das nächste Großprojekt ist längst geplant. Ich passiere Glasklötze rechts, Altbauten und ein paar interessantere Neubauten links, und dann kommt rechts das Fischereihafen-Restaurant. Herrliche Erinnerungen! Oft waren wir als Kinder hier, schwer beeindruckt von den riesigen Portionen Scholle mit kross gebratenem Speck. Ein streng guckender Portier in grauem Uniformmantel parkte das Auto.

Geparkt werden die Autos noch heute - von einer jungen Dame im Gehrock. Weiteres Zugeständnis an die Zeitläufe: ein Treppenlift am Geländer. Oben im Restaurant alles wie immer. Die Gäste strömen herein. Einstiger Junior und heutiger Geschäftsführer Dirk Kowalke empfängt persönlich. Er freut sich über die Veränderungen auf der Straße, und beide sind wir uns einig: Dass die Laster und die Damen verschwunden sind, nein, das ist wirklich kein Verlust. Und auch der Zeit, als in Neumühlen noch die Wohnschiffe lagen und ich als junge Frau dort höchst ungern alleine herumlief, trauern wir nicht hinterher.

Herr Kowalke erzählt vom neuen Küchenchef, der der Sohn des alten ist, und von Kellnern, die seit Jahrzehnten hier arbeiten. Ich schnuppere den köstlichen Duft der Scholle - registriere dazu feine Partikel von Koriander und Ingwer. Es geht also: das Alte mit dem Neuen zu verbinden, man muss es nur wollen. Wieder aufs Rad. Am Ufer liegt das Dockland. Ja, das ist wirklich mal ein toller Bau. Von dort oben fühle ich mich wie der Kapitän des Containerschiffs, das sich gerade vor meinen Augen Richtung Cuxhaven schiebt. Ein Lotsenboot flitzt vorbei, die Hadag-Fähre legt an. Kann Hamburg schön sein! Erstaunlich, dass selbst an diesem Logenplatz die Büros leer stehen. Was wohl der Quadratmeter kostet?

Wieder schweifen meine Gedanken zurück. Ein lauer Sommerabend. Mit Freunden waren wir unterwegs und landeten an der Großen Elbstraße in einem der Beach-Clubs.

Wir hingen mit den nackten Füßen im Pool, tranken einen Spritz (Hugo war noch nicht in) und schauten Leute. Alle waren da: Alt und Jung, Groß und Klein, Yuppies und Alternative. Die Clubs lagen nebeneinander. War es in dem einen zu voll, ging man eben in den nächsten. Autos waren kreuz und quer geparkt, an den Zäunen schoben sich angeschlossene Räder ineinander. Das pralle Leben!

Und heute?

Noch stehen die Fischmarkthallen. Aber wie lange noch? Frank Niehusen von Hummer Pedersen erzählte mir vor ein paar Jahren eine schöne Geschichte: Ein Makler habe ihn gefragt, ob man denn diese stinkenden Fischkisten vor dem Geschäft lagern müsse. Schließlich würden doch sehr solvente Damen und Herren herziehen. Heute steht vor Hummer Pedersen Hamburgs teuerster Wohnturm, daneben ein riesiger Büroklotz. Das Werbeplakat des Maklers wirbt mit "Premiumblick" auf die Elbe. Den haben die alten Häuser auf der anderen Straßenseite nicht mehr, und die großen Schiffe sieht man nur noch häppchenweise in den Sichtluken zwischen den Neubauten.

Ich bin ungerecht, ich weiß. Sicher ist vieles besser geworden auf der Großen Elbstraße. Es gibt die schönen Bistros, immer noch den Fischmarkt, das gut integrierte Stilwerk, eine nette Werbegemeinschaft, die Kulturabende auf der "Elbmeile" organisiert - und vieles mehr. Auf Teilen der Straße kann man auch direkt am Wasser entlanglaufen oder radeln, und viele Restaurantterrassen bieten einen Blick direkt aufs Wasser.

Aber wer erlaubt noch heute, dass das Ufer fast blickdicht von der Straße aus zugebaut wird? Wieso entstehen neue Büroblöcke, wo schon jetzt so viel leer steht? Wie sollen die Fischhändler, die Kneipiers und Bistro-Eigentümer überleben, wenn Luxusrestaurantbesitzer Fantasiemieten bieten? Und warum um Gottes willen kann es in dieser Stadt nicht mal Plätze geben, die nicht bebaut werden?

Einer, mit dem man wunderbar über all diese Fragen sinnieren kann, ist Tom Schmatloch. Er hat den Überblick: Sein Gasthaus Zum Elbblick liegt hoch über der Großen Elbstraße. Wir genießen den Sonnenuntergang von der Terrasse, drinnen im Gastraum kickt St. Pauli, es gibt Scholle, und Tom Schmatloch erzählt. Von seinem Leben hier, mit seiner Familie seit 25 Jahren in den Altbauten der Elbterrassen. Von dem Kampf gegen die Abbruchspläne der Saga und dem Teilsieg der Bewohner. Sein Vorgänger, der "singende Wirt" Kuno, schaut ab und zu mal vorbei. Tom berichtet von enttäuschten Touristen, die unten vergebens die Elbe gesucht haben und sie erst von hier oben aus wieder entdecken. Über den Werbeslogan von der "Perlenkette am Elbrand" können wir beide nur herzhaft lachen.

Gemeinsam werden wir uns an diesem Abend einig: Trotz alledem ist und bleibt die Große Elbstraße eine tolle alte Hamburger Dame. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen, dass sie ihre Seele nicht ganz verliert.

Und mein ganz persönlicher Wunsch an sie lautet (und damit schließt sich der Kreis zum Anfang): Liebe Große Elbstraße, wenn mal wieder jemand kommt und dir ein Filetstück herausreißen will, dann hol doch bitte die alten roten Lackstiefel aus dem Schrank und gib ihm einen gehörigen Tritt in den Allerwertesten.

Ende der Serie