Lesenächte bei Käse und Wein, Kultur in alten Fabriken - und wehe dem, der Hand an dieses Kleinod legt: In Ottensen setzt Hamburg sich in Szene.

Zwischen bäuerlichem Idyll und industriellem Aufstieg, zwischen Fischgestank und Zigarrenduft, zwischen Nazi-Tyrannei und Hausbesetzerszene liegen nur ein paar Meter. Die Zeitreise durch die Geschichte Ottensens beginnt und endet im ersten Stock eines roten Backsteinbaus an der Zeißstraße. Für ein Stadtteilarchiv kann es keinen besseren Platz geben als dieses Hinterhaus, wo in der Drahtstiftefabrik Feldtmann noch bis in die 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts Nägel produziert wurden. Eine Etage tiefer wirft Stadtteilarchivar Michael Sandmann für Besucher die historische Drahtstiftemaschine gerne noch einmal an, Nagel für Nagel fällt mit lautem Knack in eine Kiste.

Draußen müssen sich die Augen erst einmal an die Sonne gewöhnen. Der Weg führt über die Zeißstraße Richtung Zentrum, vorbei an der Osterkirche, inzwischen eine reformpädagogische Schule. Eine Schautafel erinnert dort an den Altonaer Blutsonntag vom 17. Juli 1932, als Nazis mit einem Propagandamarsch durch die Arbeiterviertel von Altona und Ottensen zogen und auf kommunistische Gegendemonstranten stießen. Es kam zu wilden Schießereien, die 18 Menschen das Leben kosteten.

Manche Proteste blieben vergebens

Der Widerstand, er gehört zur Kern-DNS Ottensens. Schon früh protestierten Arbeiter oder Bewohner gegen unerträgliche Arbeitsbedingungen und Elendsquartiere, gegen Nazi-Schergen, gegen den Abriss historischer Bauten. Nicht immer war der Protest erfolgreich, wie ein paar Schritte weiter das "hässliche Kaufhaus mit Bahnanschluss" zeigt. Der alte preußische Bahnhof war 1973 Baggern zum Fraß vorgeworfen worden. Auch die Proteste gegen den Abriss des Bismarckbades blieben vergebens. Das "Schwimm- und Kurhaus" mit Moor- und Schwitzbädern - hier verlangte der Barbier zehn Pfennig Hitzezuschlag - musste 2007 einem Geschäftshaus weichen.

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Ottensens wehrhafter Geist verhinderte indes einen noch dramatischeren Kahlschlag. In der Wahnvorstellung einer autogerechten Stadt hätten Hamburgs Planer in den 70er-Jahren mit dem Abschied der Industrie fast erreicht, was der Krieg nicht schaffte: die weitgehende Zerstörung des Zentrums, um eine seelenlose City West zu erschaffen.

Wunderbare Läden

Schon ein kurzer Einkaufsbummel durch das Herz von Ottensen rund um den Spritzenplatz reicht für ein großes Gefühl der Dankbarkeit für die Bürgerinitiativen, die sich damals mit Erfolg gegen diese Pläne stemmten. In einer Welt uniformierter Innenstädte mit den immer gleichen Filialen internationaler Ketten wirkt Ottensen wie ein Kleinod. Hier dominieren noch die Läden, die von Inhabern geführt werden. Allen voran die Buchhandlung Christiansen, eine der ältesten Buchhandlungen Hamburgs. Schon 1878 gründete Hinrich Friedrich Theodor Christiansen an der Bahrenfelder Straße 79 seine "Lehrmittelagentur". Neben Büchern, Heften und Karten verkaufte er auch in Spiritus eingelegte Reptilien für die Sammlungen der Schulen. Sönke Christiansen führt das Geschäft nunmehr in vierter Generation - und kämpft mit neuen Ideen um seine Kunden. Er organisiert Lesenächte bei Käse und Wein, bittet sogar zu speziellen Nur-für-Jungs-Literaturkreisen. Ganz in der Nähe lädt Christine Bruhn - bereits in der fünften Generation - in ihre wundersame Papeterie. Wo einst Geschäftsbücher gedruckt und verkauft wurden, finden sich jetzt auf zwei Etagen kostbare Füller, edles Briefpapier und originelle Karten. Wer Spielzeugabteilungen mit Plastik-Massenware hasst, wird das Cle'o für Kinder an der Reitbahn als Oase für gutes Spielzeug lieben.

Alles ist zu Fuß erreichbar

Und abends? Niemand muss sich in andere Viertel Hamburgs bemühen. Szenekneipen, Kinos, Theater und Konzerthallen - alles ist fußläufig zu erreichen. Gäbe es Preise für gelungene Umwandlung von Fabriken in Kulturzentren, Ottensen hätte ein Abo. In der Fabrik an der Barnerstraße, wo einst Maschinen gebaut wurden, rocken seit nunmehr vier Jahrzehnten Superstars wie die Blues Brothers, BB King oder Eric Burdon. Der Backsteinbau mit Galerie überlebte sowohl den verheerenden Brand von 1977 als auch mehrere Beinahe-Pleiten. Fest zum Stadtbild gehören auch das Stadtteilzentrum Motte für offene Jugendarbeit, gegründet 1976 in den Räumen einer ehemaligen Schokoladenfabrik, sowie die Zeise-Hallen mit einem erstklassigen Programmkino. Filme gucken, wo einst Schrauben gegossen wurden - so flexibel ist wohl nur Ottensen. Der Balanceakt zwischen Aufbruch und Tradition birgt natürlich Absturzgefahr. Viele Inhaber klagen über steigende Mieten, Traditionsgeschäfte wie der Plattenladen Zardoz, die Altonaer Blume oder das Wäschestübchen sind Geschichte. Manche Blogger sehen Ottensen bereits auf dem Weg zum neuen Eppendorf oder befürchten für andere innerstädtische Viertel ähnliche Entwicklungen. Der Widerstand gegen die angebliche Yuppisierung des einstigen Arme-Leute-Viertels lässt sich an den unfreundlichen Graffiti an manchen Eigentumswohnungen ablesen. Verschont werden nicht einmal Neu-Ottenser, die ganz behutsam baufällige Häuser sanieren. In der denkmalgeschützten Zeißstraße haben Käufer eines kleines Hauses beim Umbau sogar das Stadtteilarchiv Ottensen konsultiert, um keine Bausünde zu begehen. Vor primitiven Parolen an den Wänden hat es sie nicht bewahrt.

Die Miete steigt manchem über den Kopf

Wohin führt der Weg Ottensens? In kritischen Blogs dominieren Schlagzeilen wie "Ottensen stirbt". Und keine Frage, das Wortungetüm Gentrifizierung macht sich überall breit, alteingesessene Mieter, die Spitzen-Quadratmeterpreise von 14 Euro kalt nicht mehr zahlen können, haben inzwischen ein echtes Problem. Andererseits gehört das Heraufbeschwören von Horrorvisionen irgendwie zur Ottensener Protesttradition. Anfang der 90er hatten Bürgerinitiativen vor dem Bau des Mercados, des Einkaufszentrums an der Ottensener Hauptstraße, gewarnt. Es sei der Einstieg in eine seelenlose Shoppingwelt. Heute sitzen manche Protestler von einst entspannt bei Biowein oder fair gehandeltem Kaffee an einer der Bars im Erdgeschoss.

Nein, Ottensen wird nicht sterben. Sondern ein Kleinod bleiben. Bunt, spannend. Und wehrhaft.

In der nächste Folge am 25.6.: Tonndorf