Laut Studie ist jeder fünfte Jugendliche in der Hansestadt psychisch auffällig. Neue Ambulanz für Kinderpsychiatrie wird in Osdorf geöffnet.

Hamburg. Die Zahlen klingen alarmierend: Bis zu 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Hamburg zeigen psychische Auffälligkeiten, hieß es kürzlich in einer Studie. Hamburg nehme bei solchen Erkrankungen einen Spitzenplatz ein, sagt auch die AOK. Da erscheint die Nachricht von einer neuen Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Osdorfer Born nur folgerichtig. Am 9. Januar wird die Einrichtung der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung der Asklepios-Klinik Harburg ihren Betrieb aufnehmen.

Sollte sich ein großer Bedarf herausstellen, bestehe auch die Möglichkeit, nach Harburger Vorbild eine Tagesklinik direkt daneben aufzubauen, sagt Emil Branik, Chefarzt der Harburger Klinik-Abteilung, die auch für den Großteil des Bezirks Altona zuständig ist. Doch der sportlich-asketisch wirkende 56-Jährige warnt davor, mit Prozentzahlen angeblicher seelischer Erkrankungen die Entwicklung zu dramatisieren. "Solche Umfragedaten sind nicht wissenschaftlich eindeutig belegt", sagt der Kinder- und Jugendpsychiater, der sich gern einmal gegen den Mainstream der oft zitierten"Immer schlimmer"-Beschwörer stellt.

+++ Kinder brauchen festen Halt +++

+++ Druck macht Kinder seelisch krank +++

Die Zahlen basierten vornehmlich auf Fragebogen-Angaben von Eltern und Jugendlichen, nicht auf tatsächlichen Diagnosen, sagt er vorsichtig und zeigt in seinem Harburger Büro Beispiele etlicher solcher Studien. Ob Forsa-Umfrage oder WHO-Studie - die Prozentzahlen von Kindern, die unter Stress und psychischen Störungen leiden, sind in Deutschland auch da extrem hoch. "Aber Vorsicht. Nicht jede Krise, jedes Stimmungstief ist gleich eine Krankheit", sagt Branik. "So etwas gehört zum Leben dazu und muss bewältigt werden." Und wenn denn tatsächlich so viele Minderjährige psychisch auffällig seien, dann, so Branik, müsse man die große Zahl der Symptome als Normalität oder Volkskrankheit erklären. "Es gibt kein 'Immer schlimmer'", sagt der Mediziner. Aber jede Generation habe ihre eigenen Belastungen zu tragen. Und die seien nicht mehr - wohl aber anders geworden.

Und da nennt Branik Beispiele: Anders als in früheren Zeiten gebe es heute häufiger losere Familienstrukturen, Ein-Elternfamilien, Scheidungen, Trennungen und eine allgemein sinkende Bedeutung von sozialen Netzwerken, die Struktur und Zugehörigkeitsgefühl vermittelten.

"Kinder verlieren Halt", sagt Branik. Dabei seien "verlässliche, wertschätzende und frühe Beziehungserfahrungen" der beste Schutz gegen psychische Überforderung und Traumatisierung. Eben auch vor den neuen Belastungen heutiger Generationen. Etwa ein gesellschaftliches Klima, das Leistung als Hauptkriterium für soziale und ökonomische Belohnung definiere. "Heute gilt es ja schon als problematische Bildungslaufbahn, wenn ein Kind nicht aufs Gymnasium geht", sagt Branik. Doch diese Fixierung auf Leistung werde den vielfachen Begabungen von jungen Menschen einfach nicht gerecht. Als weitere Stressbelastung, die zu einer seelischen Erkrankung führen könne, aber nicht zwangsläufig müsse, sieht der Jugendpsychiater auch die "strukturelle Gewalt höchster Staatsorgane", die einseitige Fixierung auf Ökonomie und deren Vorrangstellung - ohne die sozialen Folgen zu berücksichtigen. Auch Überforderung und Zwang zur Selbstverwirklichung und Hemmungs- und Grenzenlosigkeit in der Mediennutzung stellten Kinder und Jugendliche vor neue Stress-Situationen, die sie irgendwie bewältigen müssen.

Und damit ist Branik beim Thema Osdorf. Zwar sei die Versorgung im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamburg ausgesprochen gut im republikweiten Vergleich. Doch ob sie das in der Verteilung in der Stadt auch ist, sei eine andere Frage. "Am Osdorfer Born haben wir einen sozialen Brennpunkt, deshalb habe ich für diesen Standort plädiert", sagt Branik. Gerade in solchen Gebieten müssten Kinder und Jugendliche oft mit vielen "psychosozialen Risiken" aufwachsen: Arbeitslosigkeit der Eltern, unvollständige Familien, niedriges Bildungsniveau und vieles mehr. Wichtige Aufgabe der neuen Ambulanz sei dabei die Diagnostik: zu erkennen, ob Verhaltensauffälligkeiten wie gesteigerte Aggressionen und Schulverweigerung oder psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen Ausdruck einer Krisensituation seien - oder ob die Schwelle zur seelischen Erkrankung überschritten sei. "Man darf dabei aber nie vereinfachen, psychische Störungen sind nie monokausal - sie haben meist eine Vielzahl von Ursachen."

Sollte in der Ambulanz dann tatsächlich eine Störung diagnostiziert werden, sei eine Tagesklinik eine gute Basis für eine gelungene Therapie. Tagsüber hielten sich die Kinder dort auf, nachts schliefen sie in gewohnter Umgebung. Zwei bis drei Monate dauert ein solcher Aufenthalt, eigene Klinik-Lehrer übernehmen dabei die schulische Betreuung. Die Tagesklinik in Harburg etwa hat zehn Plätze. Helle Räume, selbst gemalte Bilder hängen an den Wänden - die Einrichtung erinnert ein wenig an einen Schulhort. "Hallo, Herr Branik", wird der Chefarzt bei einem Rundgang freundlich-fröhlich von den Kindern begrüßt. In einem Zimmer üben Bewegungstherapeuten mit ihnen, woanders trainieren die Kinder den sozialen Umgang miteinander, zudem gibt es einen Raum für eine klassische Psychotherapie. "Wir vermitteln vor allem wieder Struktur im Leben der Kinder", sagt Branik. Und der Erfolg? "Ohne die Mitwirkung der Betroffenen ist das schwer." Gerade in sozialen Brennpunkten wie Osdorf könnten eine Erziehungsberatung, schulische Hilfen oder soziale Unterstützung auch vordringlicher sein. Denn ein Allheilmittel für die Gesellschaft, stellt er klar, könne die Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht bieten. Branik: "Wir sind kein Reparaturbetrieb für soziale Missstände."