Hamburg. Deutschland hat mehr Ärzte und dennoch einen Ärztemangel: Kammerpräsident Montgomery spricht über den Widerspruch und Lösungsansätze.

Am 24. Mai beginnt in Hamburg der Deutsche Ärztetag. Vier Tage lang werden 250 Delegierte der 17 deutschen Ärztekammern und die Besucher aktuelle Fragen der Gesundheits- und Sozialpolitik diskutieren. Es ist das erste Mal seit 25 Jahren, dass das Parlament der Ärzteschaft wieder in der Hansestadt tagt. Über die wichtigsten Themen des Ärztetages sprach unsere Redaktion mit Prof. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Hamburger und der Bundes-Ärztekammer.

Herr Montgomery, auch der Ärztetag muss sich mit dem Thema Flüchtlinge befassen. Wie steht es um deren medizinische Versorgung?

Prof. Frank Ulrich Montgomery: Wir wollen beim Ärztetag unseren Kollegen einen Dank abstatten, die insbesondere in Hamburg die Versorgung hervorragend geregelt haben. Es hat bundesweit viele Probleme gegeben, in Hamburg relativ wenige. Wir haben in Hamburg ein zukunftsweisendes Modell, in dem die Flüchtlinge eine Gesundheitskarte einer Krankenkasse bekommen, die ihre Leistungen mit der Stadt abrechnet. Die Kassenärztliche Vereinigung hat den Leistungsumfang so geregelt, dass er noch über das Asylbewerberleistungsgesetz hinausgeht.

Das Gesetz birgt Tücken aus Ärztesicht.

Montgomery: Es enthält die Einschränkung, dass nur akute Erkrankungen und Schmerzen behandelt werden dürfen. Das ist für uns als Ärzte nicht hinnehmbar. Für uns ist nicht der Grund ausschlaggebend, warum ein Mensch nach Deutschland gekommen ist. Wir haben die ethische Verpflichtung, jeden gleich zu behandeln. Wenn ich erkenne, dass jemand auf dem Weg ist, zum Diabetiker zu werden, kann ich nicht warten, bis der Diabetes entgleist ist, sondern muss ihn gleich behandeln. Dass so etwas jetzt in Hamburg möglich ist, hat die KV in Verhandlungen bewirkt.

Was muss bei der Versorgung der Flüchtlinge verbessert werden?

Montgomery: Verbessert werden müssen die Erreichbarkeit und die Kommunikation. Das Bundessozialgericht hat in einem für uns erschreckenden Urteil festgestellt, dass die Amtssprache der deutschen Krankenversicherung Deutsch ist und deswegen nur ein Anspruch auf Leistungen in deutscher Sprache besteht. Ich halte das für nicht zeitgerecht. Das muss geändert werden. Wir haben heute viele Menschen in Deutschland, die normale sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse haben und nicht ausreichend Deutsch sprechen. Wir kämpfen darum, dass man in Zukunft auch Dolmetscherservices für ausländische Patienten in der gesetzlichen Krankenversicherung mitberücksichtigt. Die Containerlösung, bei der ein Dolmetscher per Video in das Sprechzimmer zugeschaltet wird und die jetzt in Hamburg eingeführt wird, finden wir richtungsweisend.

Gibt es in Deutschland zu wenig Ärzte?

Montgomery: Wir haben mit Sicherheit ein Verteilungsproblem, das sich als Mangelsituation auf dem flachen Land auswirkt. Wir beobachten aber auch das Phänomen, dass wir immer mehr Ärzte haben und trotzdem einen zunehmenden Mangel an Arztstunden. Das hat mehrere Gründe. Erstens hat in den 70er-Jahren noch jeder Deutsche 1990 Stunden im Jahr seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt. Im letzten Jahr sind wir bei 1330 Stunden gewesen. Die gesamte Gesellschaft arbeitet pro Kopf ein Drittel weniger als früher. Zweitens gibt es einen Strukturwandel in der Medizin. Zwei Drittel der Medizinstudierenden sind weiblich – zu meiner Studienzeit war Medizin noch ein überwiegend männlicher Beruf – und viele Frauen stellen weniger Arbeitszeit zur Verfügung, weil sie andere Prioritäten setzen. Drittens kann Medizin sehr viel mehr als früher und ist ein sehr personalintensiver Einsatzort. Deswegen brauchen wir insgesamt viel mehr Arbeitsstellen. Wir haben für die letzten zehn Jahre berechnet, dass wir zwar 20 Prozent mehr Ärzte haben, aber nur drei Prozent mehr Arbeitszeit.

Wie ist der Ärztemangel zu bewältigen?

Montgomery: Durch moderne Versorgungsmodelle. Erstens müssen wir uns überlegen, wie wir die Flächenländer versorgen. Dazu bedarf es ein wenig mehr Innovationen, was die Zusammenarbeit von Praxen und Krankenhäusern angeht, aber auch einer Aufklärung der Bevölkerung, dass man nicht jeden fachärztlichen Service rund um die Uhr anbieten kann. Langfristig werden wir uns fragen müssen, ob wir nicht mehr Studienplätze zur Verfügung stellen. Wenn wir heute über Studienplätze reden, brauchen wir drei Jahre, um das gesetzlich umzusetzen. Dann dauert es noch sechs Jahre Ausbildung und sechs Jahre Facharztausbildung, bis der Arzt zur Verfügung steht. Höchste Zeit, sich heute Gedanken um die Ärzte von 2030 zu machen.

In welchen Bereichen macht sich der Ärztemangel am deutlichsten bemerkbar?

Montgomery: Von denen, die zurzeit Facharzt werden, sind nur etwa elf bis zwölf Prozent Allgemeinärzte und 88 Prozent Fachärzte. Wir werden wahrscheinlich sehr viel mehr für die Allgemeinmedizin tun müssen. Augenheilkunde, HNO, Dermatologie und Neurologie sind die Fächer, bei denen wir heute schon eine Unterversorgung auf dem Land feststellen. Nicht in der Hamburger Innenstadt, aber schon in Steilshoop und Wilhelmsburg gibt es für diese Fächer kaum noch Ärzte. Typischerweise sind damit die Fachärzte betroffen, die früher traditionell im Krankenhaus weitergebildet wurden. Im Zuge einer modernen Krankenhausinvestitionsplanung sind das stark ambulantisierte Bereiche geworden, sodass es kaum noch Stellen für die ärztliche Weiterbildung im Krankenhaus gibt. Der niedergelassene Arzt bekommt bisher mit wenigen Ausnahmen kein Geld dafür, dass er einen Arzt weiterbildet. Er muss sie aus seinem Budget mitfinanzieren, das kann man von ihm eigentlich nicht erwarten.

Es gibt derzeit einen absurden Streit um eine neue Gebührenordnung für Privatversicherte. Das übliche Ärztegezänk?

Montgomery: Die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) wird von der Bundesregierung erlassen. Unsere letzte stammt aus 1982, seit 20 Jahren kämpfen wir um eine neue. Bisher haben alle Gesundheitsminister die Finger davon gelassen. Deswegen haben wir beschlossen, eine handwerklich sauber durchkonstruierte GOÄ zu entwickeln, die der Gesetzgeber übernehmen kann. Aber die Verhandlungen mit den Privaten Krankenversicherungen ziehen sich hin.

Wenn Ärzte mehr Geld von Privatversicherten bekommen, belastet das die Haushalte der Länder. Denn Beamte sind meist privat versichert und bekommen über die Beihilfe Zuschüsse zur Krankenversicherung. Die Politik wird es freuen, wenn sich die Ärzte nicht einigen.

Montgomery: Die Diskussion hängt damit zusammen, dass einige Ärzte gern die alte GOÄ behalten würden. Es gibt aber auch Ärzte, die 30 Prozent mehr Honorar haben wollen, weil es länger als 20 Jahre keine Anpassung gab.

Sie werden sich beim Ärztetag auch mit dem Absturz der Germanwings-Maschine befassen, bei der der Copilot 149 Menschen mit in den Tod gerissen hat. Hätten die Ärzte des Piloten seinen Arbeitgeber über ein Risiko informieren müssen?

Montgomery: Laut dem Bericht der französischen Behörden ist er bei vielen Ärzten gewesen und hat oft gar nicht angegeben, dass er Pilot ist. Viele davon waren Augenärzte. Denn er hatte offenbar Sorge zu erblinden und die Lizenz zu verlieren. Keiner dieser Ärzte hat Gedanken zu einem erweiterten Suizid diagnostiziert. Wir finden es als Ärzte erschreckend, dass das Luftfahrt-Bundesamt und die Lufthansa wussten, dass dieser Pilot eine schwere depressive Erkrankung in der Vorgeschichte hatte und dann keine besonderen Untersuchungen durchgeführt hat. Ich finde, dass die Lufthansa als Arbeitgeber und das Luftfahrt-Bundesamt als Aufsichtsbehörde versagt haben. Sie hätten diesen Piloten häufiger untersuchen müssen. In solchen Fällen reicht eine jährliche Untersuchung nicht aus.

Haben die Betriebsärzte versagt?

Montgomery: Der fliegerärztliche Dienst der Lufthansa und das Luftfahrt-Bundesamt hätten genauer hinschauen müssen. Dabei ist auch zu kritisieren, dass die fliegerärztliche Untersuchung mehr auf körperliche Befunde und Laborwerte abgestellt ist und zu wenig auf psychische Untersuchungen.

Sind Piloten ausreichend abgesichert?

Montgomery: Früher erhielten die Piloten eine lebenslange Berufsunfähigkeitsversicherung. Damit erhielten sie eine Art Rente. Das hat man im Rahmen der Umstrukturierung bei der Lufthansa aufgegeben. Heute erhalten die Piloten noch eine Unfit-to-fly-Versicherung für zehn Jahre, die in etwa die Kosten abdeckt, die der Betroffene der Lufthansa für seine Ausbildung schuldet. Der Pilot Andreas L. sollte noch 62.000 Euro Ausbildungskosten bei der Lufthansa bezahlen und hatte eine Unfit-to-fly-Versicherung von etwa 74.000 Euro. Da bleibt dann nichts übrig. Das ist nicht anständig. Auch die Arbeits- und Einstellungsbedingungen der Piloten führen zu einem solchen Druck, dass manche Menschen mit einer solchen Situation ein Problem haben.