Washington/New Hartford. In den USA lassen fundamentalistisch-christliche Eltern in einer Kirche ihre Söhne stundenlang für dubiose Sünden büßen. Einer stirbt.

Nachbarn der „Word of Life“-Kirche in Chadwicks, 400 Kilometer nördlich von New York City gelegen, hatten schon oft den Verdacht, dass hinter den roten Backstein-Wänden ein seltsames Verständnis von Nächstenliebe herrscht. „Gastfreundschaft Fehlanzeige, die Tür war immer zu“, sagt Abraham Esper von der römisch-katholischen Patrick‘s-St. Anthony-Kirche nebenan. Der Priester berichtete gestern von Schreiereien, Trommeleinlagen, seltsamen Gesängen nachts um 3 und verschlossenen Kirchgängern, die die Außenwelt mieden wie der Teufel das Weihwasser.

Seit Mittwochnachmittag hat die Kleinstadt bei New Hartford den Beweis, dass auf dem von fundamentalistischen Christen bewohnten Gotteshaus kein Segen liegt. Lucas Leonard, ein 19-Jähriger, ist tot. Sein Bruder Christopher, 17, schwebt in Lebensgefahr. Wie Polizeichef Micheal Inserra sagt, wurden die beiden unter aktiver Beteiligung ihrer Eltern vor dem Altar stundenlang schwer misshandelt. Eine erzwungene Beichte für angebliche Sünden, nach deren Hintergründen die Justiz noch sucht, endete in tödlicher Selbstjustiz.

Auslöser für die Gewaltorgie ist unklar

Begonnen hat das Martyrium laut Polizei am Sonntagabend. Lucas und sein Bruder, die nach Aussagen von Nachbarn daheim jeden Tag zwei Stunden Bibelstudium absolvieren mussten, wurden zu einem „Therapiegespräch“ über ihren „spirituellen Zustand“ einvernommen. Warum, ist bisher genauso unbekannt wie der Auslöser für die Gewaltorgie, die sich bis in den frühen Montag hinzog und bei Lucas Leonard am Rücken, am Bauch, an den Beinen und den Genitalien zu so schweren Verletzungen führte, dass die Ärzte in der Notaufnahme des lokalen Krankenhauses zunächst ein Schusswaffen-Opfer vor sich glaubten.

Staatsanwalt Scott D. McNamara geht davon aus, dass der oder die Täter ihr Opfer selbst am Hospital absetzten. Als da zu allererst wären: Bruce Leonard, 65, Aushilfslehrer, und Deborah Leonard, 59, Hausfrau. Die Eltern müssen sich wegen vorsätzlichen Totschlags an ihrem Sohn verantworten. Ihre Kaution wurde bei der richterlichen Vorführung auf jeweils 100.000 Dollar festgesetzt. Über ihrer Anwälte ließen sie die Vorwürfe bestreiten. Daneben sind vier weitere Mitglieder der kaum 50 Köpfe zählenden Gemeinde, die sich 1984 als größerer Familienverbund gegründet hatte, ein altes Schulgebäude erwarb und zur Kirche umfunktionierte, wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Darunter ist mit Jerry Irwin (26) auch der Ehemann von Kirchenführerin Tracy Irwin.

Spezialeinsatzkommando stürmte Kirche

Als die Sheriffs den, so ein Ermittler, „zu Brei geschlagenen“ Lucas im Krankenhaus sahen und die Spekulationen über den religiösen Hintergrund hörten, wurde ein bewaffnetes Spezialeinsatzkommando zur Kirche beordert. Beim Betreten trafen die Sicherheitskräfte auf etliche Kirchenmitglieder, die zum Teil in dem Gebäude leben. Sieben Kinder zwischen 2 und 15 Jahren wurden vorbeugend in die Obhut der Behörden gegeben.

Was die „Word of Life“-Kirche antreibt, eine von Hunderten Miniglaubensgemeinschaften, die in Amerika unter dem verfassungsrechtlich geschützten Schutzschirm der Religionsfreiheit gedeihen, ist weitgehend unbekannt. Nachbarn berichteten gegenüber Lokalzeitungen, dass die Kirche ein „Fremdkörper“ war; eingerahmt von hohen, blickdichten Hecken.

An Halloween und anderen publikumsträchtigen Feiertagen schoben Kirchenmitglieder rund um das Areal Wache, „um Neugierige abzuhalten“, wie Lynn Laventure sagt, deren Eltern gegenüber der Kirche wohnen.

Nach der Nachricht vom Tod des jungen Lucas Leonard, der wie sei Bruder Christopher nicht zur Schule ging, sondern von Vater Bruce daheim unterrichtet wurde, schüttelten Passanten gestern im Vorbeigehen erschüttert den Kopf. Am Eingangstor der Kirche hängen mehrere Bibelsprüche. Darunter auch dieser aus Johannes 1:5 - „Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis.“