Nicht jung, nicht dünn, nicht faltenfrei: Frauen mit Makeln revolutionieren die Modewelt, drängen auf die Bühne - und haben Erfolg damit.

Man wird nicht müde, sie anzusehen. Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Bewunderung. Ebenso erging es dem Publikum jüngst auf der Berliner Fashion Week, als Eveline Hall über den Laufsteg des angesagten Designers Michael Michalsky lief. Tosender Applaus für die 65 Jahre alte Hamburgerin mit den langen Beinen, der schmalen Silhouette. Selbstbewusst, selbstverständlich lief Hall als ältestes Model der Schauen mit 16- und 17-Jährigen.

Ihrem Aussehen sei Dank. Doch auch sie muss für die schlanke Linie arbeiten. "Ich trainiere täglich mit Zehn-Kilo-Gewichten", so Hall, die bei Deutschlands erfolgreichstem Agenten Ted Linow unter Vertrag steht. Ihr Credo: "Nie aufhören." Seit ihrer frühesten Jugend beschäftigt sie sich mit ihrem Körper, weiß deshalb genau, was sie braucht, was sie sich abverlangen kann.

Die gebürtige Berlinerin ist bereits im Alter von 16 Jahren Solotänzerin beim Hamburger Ballett, zieht neun Jahre später in die USA, Las Vegas. Hier wird sie Showtänzerin bei Siegfried und Roy, tritt auf den größten Bühnen des Landes auf. Zurück in Europa, arbeitet sie als Schauspielerin in Basel, Wien, am Thalia-Theater. Und jetzt startet sie als Model durch - mit 65. "Wenn ich meine Disziplin nicht hätte, dann hätte ich das nicht machen können", sagt sie und streicht sich mit beiden Handflächen die langen grauen Haare aus der Stirn. Doch mit der starken Resonanz hätte sie nie gerechnet.

Hall unterstreicht ihre Sätze mit Bewegungen ihrer sehnigen Arme. "Wissen Sie, im Alter kann man alles sein: lustig, erotisch, frech, launisch. Nur nicht jünger." Und genau das möchte ihr Agent Linow auch nicht. Ohne ihr Alter, ihren "Makel", wäre sie nicht so vollkommen, unperfekt. Kein derart gefragtes Model. "Wir besetzen Eveline bewusst für Jobs wie ein junges Mädchen. Sie wird keine Werbung für Blasenmittel und Stützstrümpfe machen und keine Fotos, wo sie auf einer Parkbank Vögel füttert."

Der Fall Eveline Hall findet in der Branche Anklang, zumindest sind Änderungsansätze erkennbar. "Die Modeindustrie tut sich schwer mit einem Umdenken", sagt Knut Schulz, Inhaber der Hamburger Agentur Elbmodels, "aber das Thema der natürlichen Schönheit, etwa in Form von Best Agern, ist im Kommen." Bislang habe es der Branche schlicht an Vorbildern gefehlt. Wenn ältere Damen in Spots auftauchten, dann fast ausschließlich in der Rolle der "Oma", nicht als elegante, reife Frau. "Es gibt Senta Berger, aber dann ist auch schnell Schluss", sagt Schulz, dessen Agentur Senior Models, also Modelle von 30 an aufwärts, für Werbung und Medien vermittelt. 400 Personen sind in seiner Kartei, jeden Monat bewerben sich weitere 300 Frauen und Männer bei ihm. Auch Eveline Hall hatte hier ihre Sedcard, bevor Ted Linow sie entdeckte und zu Mega Models holte. "Sie wurde gern von Fotografen gebucht, die eher schräge Mappenbilder brauchten", sagt Schulz. "Mit ihren 65 Jahren fällt sie einfach völlig aus dem Rahmen." Jetzt sei die Zeit reif für eine solche Persönlichkeit. "Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie bald auch in Mailand und Paris laufen wird. Es ist gut, dass jemand damit anfängt. Und ich hoffe, dass auch andere Frauen durch Eveline Hall ermutigt werden, selbstbewusster mit den Themen Alter und Schönheit umzugehen."

Es sind aber nicht nur die Best Ager, die die Mode- und Medienwelt derzeit revolutionieren. Das zweite Zauberwort heißt Plus Size, etwas weniger schick als Übergröße bekannt. Bei der Modenschau, die die Zeitschrift "Brigitte" vor einer Woche anlässlich des ersten "Ohne Models"-Jubiläums veranstaltete, bekam jene Frau den meisten Applaus mit den meisten Pfunden auf den Hüften: Laura Goymann. Die Studentin aus Düsseldorf wurde von der Redaktion ohne Zögern für die Schau gebucht - passt sie doch hervorragend in das Konzept der Chefredakteure Andreas Lebert und Brigitte Huber, die ihr Magazin vom "einheitlichen, in Teilen pervertierten Schönheitsbild" distanzieren wollen.

Eine der Plus-Size-Stars ist Sängerin von The Gossip, Beth Ditto. Sie avancierte zum Liebling der Modebranche - und ließ die Modewelt sich selbst hinterfragen. Zumindest für einige Augenblicke. Perfektion, Jugendlichkeit und Schlankheit bestimmen die Währung der Modeindustrie. Ist jetzt dick das neue chic? Sie schaffte zumindest das, wovon Tausende Models träumen und sich dadurch locker auf eine Größe 32 hungern würden - Modezar Karl Lagerfeld erkor sie als seine neue Muse (nachdem er über die "Brigitte"-Kampagne und dicke Muttis mit Chipstüten gewettert hatte). Und auch Jean-Paul Gaultier hievte sie auf den Laufsteg. Ditto, die sich selbst als "fette Lesbe" bezeichnet, musste dafür keine Diät machen, sondern nur sie selbst sein.

Einen ähnlichen Weg könnten nun vier Hamburgerinnen einschlagen: Michelle, Martina, Alex und Nadine, die zusammen die Band Big Soul sind. Im Herbst 2010 erreichten sie im Fernsehen bei der Castingshow "X Factor" den zweiten Platz - was die wenigsten erwartet hätten. Denn sie haben einen Makel, der im Showbiz, in den Medien als "No-go" gilt: Sie sind wie Beth Ditto dick, Dutzende Kilos vom vermeintlichen Schönheitsideal entfernt. Dennoch überzeugten sie Jury und Publikum mit ihren Stimmen und ihrer Ausstrahlung. "Für uns hat sich seitdem vieles verändert", sagt Alex. "Ich war zuvor ziemlich unsicher. Und hatte schon Schwierigkeiten zu glauben, dass die Leute uns ehrlich mit jedem Gramm wollen." Alle vier haben in ihrem Leben Ausgrenzung und Kritik wegen ihrer Körperfülle erlebt. "Mich so zu akzeptieren, wie ich bin, das war ein Prozess", sagt die 35-jährige Michelle. "Das Bild von uns selbst machen wir nicht an unserem Gewicht fest", so Martina. Irgendwann akzeptiere man sich und seinen Körper. "Außerdem hätten wir den Erfolg nicht in Größe 36 gehabt", meinen die vier Sängerinnen. Und: "Von den Medien wird ein Ideal vorgesetzt, was es ja gar nicht gibt", kritisiert Alex.

Naht nun die lang heraufbeschworene Gegenbewegung zu den Magermodels, damit sich dramatische Schicksale wie das des magersüchtigen Models Isabelle Caro nicht mehr wiederholen? Vor fünf Wochen verstarb die knapp 30-Jährige an einer Lungenentzündung. Berühmt wurde die Frau mit Nacktbildern, 2007 schockte sie in einer Anti-Magersuchts-Kampagne die ganze Welt. Damals wog Caro nur noch 31 Kilogramm bei einer Größe von 1,64 Metern. Es sind Nachrichten wie diese, die aufrütteln. Immerhin sind dünne Models für viele Mädchen Vorbilder. Die falschen - betrachtet man die aktuellen Zahlen, nach denen jede dritte Frau in Deutschland eine Ess-Störung hat.

Es sind Kampagnen wie die "Dove"-Models, die den Blick auf ein natürlicheres Frauenbild lenken. Als eine der Ersten verbannte die Modewoche in Madrid 2008 Magermodels vom Laufsteg. Und auch auf Produzentenseite wird umgedacht: Firmen wie S.Oliver oder C&A haben die selbstbewussten, kräftigen Frauen für sich als Käufer entdeckt - immerhin tragen laut dem Modemessen-Veranstalter Igedo 56 Prozent der deutschen Frauen Größe 42 und mehr. Internationale Modemarken wie Marina Rinaldi produzieren erfolgreich Übergrößen-Kollektionen, präsentiert vom berühmtesten Plus-Size-Model Crystal Renn. Den Trend zur femininen Silhouette hat derweil das Nobelkaufhaus "Saks Fifth Avenue" in Manhattan erkannt. Hier sollen zukünftig Kreationen von Labels wie Chanel, Dolce & Gabbana und Valentino bis Größe 52 angeboten werden. Und ausgerechnet Roberto Cavalli, bekannt für seine hautengen Kleidchen, brachte als einer der Ersten die Plus-Size-Kollektion "Class White Label" auf den Markt.

Es scheint sich etwas zu bewegen im Geschäft mit der Schönheit. Auch im Bewusstsein der Konsumentinnen.

Nach jahrelanger Dominanz der dürren Kleiderbügel haben Frauen sich förmlich sattgesehen an Haut und Knochen. Bis auf die sehr jungen Mädchen im Teenager-Alter: "Das Aussehen der Models, das auf den retuschierten Fotos in den Modezeitschriften oft verschönert wird, gilt als Maßstab dafür, wie man sich inszenieren muss, um diese Ziele zu erreichen, und die Zeitschriften geben entsprechende Hilfestellungen", sagt Birgit Pfau-Effinger. Die Professorin für Soziologie von der Universität Hamburg beschäftigt sich seit Jahren mit Frauenbildern, beurteilt unter anderem die Castingshow von Heidi Klum. Den Erfolg und die wachsende Popularität von "Unperfekten" kann sich die Wissenschaftlerin erklären. Frauen, die etwas älter sind, suchten sich andere Identifizierungsmöglichkeiten: "Wenn sie diese frühe Jugendphase überwunden haben und auch beruflich etabliert sind, sind Frauen oft selbstbewusster und verändern ihre Ansprüche an die Art und Weise, in der die Medien andere Frauen inszenieren", so Pfau-Effinger. "Sie orientieren sich weniger an abgehobenen Vorbildern. Sie haben eher herausgefunden, wer sie sind, und haben mehr Mut, als eigene Persönlichkeiten aufzutreten."