350 Menschen leben in Berlin mit der Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Sie profitieren vom Internet-Hype, bei dem sich Prominente einen Eimer Eiswasser über den Kopf schütten.

Es war das R, das anders war. Ute Oddoy hatte es immer gerollt, wenn sie die Namen ihrer russischsprachigen Patienten ausgesprochen hatte, die zu ihr in die gynäkologische Praxis in Kaulsdorf kamen. Ein Überbleibsel ihrer Studienzeit in Russland. Dann rollte es auf einmal nicht mehr.

Die Gynäkologin Ute Oddoy ging zu ihrer Neurologin, die schnell eine Ahnung hatte: Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS. Drei Monate später wusste Ute Oddoy, sie würde Stück für Stück die Kontrolle über ihren Körper verlieren. Die Muskeln würden nicht mehr tun, was der Kopf wollte.

Acht Jahre sind seitdem vergangen. Jahre, in denen Ute Oddoy auch die anderen Buchstaben des Alphabets fast verloren hat. Die Fähigkeit, ihre Beine zu bewegen, ihre Arme, ihre Finger. Die 55-Jährige sitzt in einem Rollstuhl und hebt bedeutungsvoll die Augenbrauen. Es ist ihre Art mit der Umwelt zu kommunizieren, seit die Zunge nicht mehr mitmacht. Eine Geste, die das Gegenüber auf ihre Seite zieht, ihm das Gefühl einer Verbundenheit gibt.

Ihr Bruder streicht ihr die grauen Haare hinter die Ohren, zieht die perlmuttschimmernde Bluse zurecht und deckt ihre Hände mit dem roten Cape zu, das sie trägt. Hendrik Schreiber begleitet seine Schwester, so oft er kann. Er ist einer der wenigen, der die Laute, die sie noch artikulieren kann, versteht. „Geschwister haben eben den gleichen Slang“, sagt er und lacht. Die Schwester lacht auch, lautlos, und kneift die Augen zu einem Zwinkern zusammen.

350 ALS-Patienten in Berlin

In Berlin leben 350 Menschen mit der Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose, in ganz Deutschland sind es 8000. Seit im Internet die außergewöhnliche Spendenaktion „Ice Bucket Challenge“ läuft, bei der sich Menschen einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf gießen und für die ALS-Forschung und -Behandlung spenden, ist zumindest der Name der Krankheit vielen Menschen ein Begriff geworden.

Weniger wahrscheinlich die medizinischen Hintergründe. „Es ist kein Mysterium“, sagt Thomas Meyer. Er ist Leiter der ALS-Ambulanz an der Charité und behandelte auch den Künstler Jörg Immendorff, Deutschlands bekanntesten ALS-Kranken. Immendorff starb 2007, zehn Jahre nach der Diagnose. Meyer erzählt, gerne würde ein großes Rätsel um die Krankheit ALS aufgemacht. „Aber wir wissen, was im Körper passiert. Nur verstanden hat noch niemand die Ursache und Herkunft der Krankheit“, sagt Meyer.

Die Krankheit erklärt Thomas Meyer so: Jede Bewegung im Körper ist durch Nerven gesteuert, durch das sogenannte motorische Nervensystem. ALS zerstört nach und nach diesen Teil des Nervensystems, der für die Kraftentfaltung zuständig ist. „Man muss es sich wie einen Flächenbrand vorstellen“, sagt der Neurologe. Im Netzwerk der Nervenzellen fängt es an einer Stelle an zu brennen, und dann ist das Feuer nicht mehr aufzuhalten. Am Ende sind die Menschen vollständig gelähmt, auch die Atmung ist betroffen. Schuld daran sind, wie auch bei anderen neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson, schädliche Eiweiße, die sich in Gehirn und Rückenmark ablagern.

Lebenswerk in fremden Hände

Bei Ute Oddoy fing der Brand im Mund an, zog weiter in die Beine und schließlich in die Arme. Für sie ein kleines Glück, denn so konnte sie ihre Praxis noch anderthalb Jahre weiterführen. Als Gynäkologin waren die Hände für sie das Wichtigste. Mitte 2007 behandelte sie ihre letzte Patientin – im Rollstuhl. Dann gab sie ihr Lebenswerk in fremde Hände. „Das war für sie das Schwerste. Sie konnte einfach nicht loslassen“, sagt ihr Bruder. Ute Oddoy laufen Tränen über die Wangen. Sie weint stumm.

Als sie die Diagnose bekam, war ihr jüngerer Sohn dreieinhalb Jahre alt, der andere mitten in der Pubertät. Sie begann zu kämpfen. „Ihr Tag ist voll“, erzählt ihr Bruder. Ute Oddoy spricht, der Bruder übersetzt. Sie geht zur Physiotherapie, zum Schwimmen, zum Lungentraining. „Ich bin eben Preußin“, sagt Ute Oddoy. Letztes Jahr reiste sie für vier Wochen nach China, auch in Nepal war sie. Ihr Haus hat sie sich behindertengerecht umbauen lassen, sie geht einkaufen, und auch in der Schule ihres jüngeren Sohnes kennt man sie.

Ihr Bruder sagt: „Wir sagen immer, sie lebt schon länger, als die Statistik sagt. Jetzt hat sie den Freibrief für alles.“ Noch lebt Ute Oddoy ohne künstliche Beatmung. Nur in der Nacht setzt sie zur Entlastung eine Beatmungsmaske auf. Doch der Tag wird kommen, an dem sie nicht mehr ohne Hilfe atmen wird. An diesem Punkt müssen die ALS-Kranken entscheiden, ob sie mit einer künstlichen Beatmung weiterleben möchten. „Wir haben eine Wahl“, sagt Thomas Meyer von der ALS-Ambulanz. „Anders als so manche Krebspatienten.“

Balance zwischen Lebenszeit und Lebensqualität

Er erzählt von einem Theaterstück, das Christoph Schlingensief inszenierte. „Kunst und Gemüse: ALS Krankheit“ hieß das Stück, in dem die ALS-Kranke und damals schon komplett gelähmte Angela Jansen die Hauptrolle spielte. „Schlingensief ist tot, Angela Jansen lebt noch immer“, sagt Thomas Meyer. Christoph Schlingensief starb 2010 an Lungenkrebs. Er hatte keine Wahl.

Menschen mit ALS können mit lebenserhaltenden Maßnahmen wesentlich länger leben, als die statistischen drei bis fünf Jahre, die es dauert, bis der Körper vollständig gelähmt ist. Unbehandelt würden sie verhungern, weil sie nicht mehr schlucken können, oder an einer Vergiftung mit Kohlendioxid sterben, weil die Atemmuskeln nicht mehr funktionieren. „Es geht darum, eine Balance zwischen Lebenszeit und Lebensqualität zu finden“, sagt Thomas Meyer. Deswegen steht in der ALS-Ambulanz der Charité das Gespräch zwischen Arzt und Patient im Mittelpunkt. Es sind viele und lange Gespräche, denn die Frage, ob man das eigene Leben künstlich verlängern möchte, gehört zu den persönlichsten Entscheidungen, die ein Mensch treffen kann.

Spenden für Beratung

An dieser Stelle kommt die „Ice Bucket Challenge“ ins Spiel. Denn die zweistündigen Gespräche zahlt die Krankenkasse nicht. Auch nicht den Sozialarbeiter, die Ernährungstherapeutin, die Hilfsmittelkoordinatorin oder Mitarbeiter, die Termine vereinbaren oder Rezepte versenden. „Nur ich selbst werde aus den Zahlungen der Krankenkassen bezahlt“, erzählt Meyer. Die anderen neun Mitarbeiter sind über Spenden finanziert. „Für uns ist es genial, dass das Thema auf diese Weise in die Öffentlichkeit kommt“, sagt Meyer.

Mehr als 700.000 Euro Spenden sind bislang für die Ambulanz zusammengekommen, die 800 Patienten behandelt. Auch Ute Oddoy findet die ungewöhnliche Spendenaktion toll. Gerade an diesem Tag hätte sie eine ehemalige Patientin darauf angesprochen. Wieder laufen die Tränen. Der Verlust ihres Lebenswerks tut weh.

Für Ute Oddoy steht fest, dass sie sich künstlich beatmen lassen wird. Sie möchte ihren Sohn aufwachsen sehen und lange leben. „Du musst nur aufpassen, dass dir die bösen Jungs draußen auf der Straße dann nicht den Sauerstoff abdrehen“, sagt Hendrik Schreiber. Seine Schwester verdreht die Augen. „Und wenn du dann mal den Löffel abgibst, bist du ja auch schon in einem ordentlichen Rentenalter.“ Der Bruder sagt, sie glauben an das gute Leben vor dem Tod.