Rund 6,6 Millionen Deutsche sind überschuldet. Manche besitzen nicht einmal etwas, das gepfändet werden kann

Keine zwei Minuten braucht der Schlosser, dann ist die Wohnungstür offen. Nur eine Minute braucht Wolfgang Damm, dann ist ihm klar: Diesen Schuldner wird er nicht mehr antreffen. Ein kurzer Rundgang, dann macht er Aufnahmen für seine Akten: abgetragene Jeans und T-Shirts, ein klappriger Sperrholzschrank, ein Wäscheständer. In der Küche eine Pfanne in der Spüle und drei Kinderbrotboxen auf der Fensterbank. Viel mehr gibt es nicht in der Einraumwohnung mit Ikea-Kronleuchter an der Decke und Blick auf einen Hinterhof. Es sieht nicht verwahrlost aus, nur traurig.

Die Verwalterin schüttelt betrübt den Kopf: „Der junge Mann war doch gerade dabei, sein Leben auf die Reihe zu bringen, und er wollte sich wieder mehr um seine kleine Tochter kümmern.“ Fest steht, dass er von seinen zwölf Monatsmieten dem Vermieter eine gezahlt hat. Heute wird die Wohnung zwangsgeräumt. Wolfgang Damm, der zuständige Gerichtsvollzieher in Berlin-Friedrichshain, notiert sich das wenige, das er darin vorfindet.

Leben in Schieflage

Neun Termine standen auf Damms Plan. „Vier Gaszählersperrungen, drei Zwangsräumungen, zwei Verhaftungen“, zählt der 58-Jährige auf. Die meisten haben in letzter Minute noch mal die Kurve bekommen und sich mit dem Gläubiger geeinigt – indem sie ein paar Euro zusammengekratzt und einen Teil ihrer Schulden gezahlt haben. Damit bleiben drei Termine: der verschwundene Vater, eine weitere säumige Mieterin und ein ehemaliger Wirt, der sein Gas nicht bezahlt und laut Nachbarn offenbar im halben Kiez offene Rechnungen hat. Auch dieser Mann ist abgetaucht. Die säumige Mieterin konnte nicht mehr zahlen. Der Grund dafür wird vor Ort schnell klar. Schon im Treppenflur hängt ein giftig-süßlicher Geruch. Damm und der Schlosser gehen ein paar Schritte in die Wohnung, dann haben sie genug gesehen. Die Frau muss seit Wochen dort gelegen haben.

Wenn jemand Schulden hat, gerät oft das gesamte Leben in Schieflage – oder umgekehrt? Weil das Leben in Schieflage geraten ist, kommen Schulden hinzu? Oder ist Verschuldung doch einfach selbst verschuldetes Elend? „Nein“, sagt Damm zwei Wochen später auf einer neuen Tour. „Es kann jeden treffen. Krankheit spielt häufig eine Rolle oder dass Partnerschaften auseinandergehen oder wenn jemand arbeitslos wird. Das ist dann das erste Mal, dass bei so jemandem etwas durcheinanderläuft im Leben, dann kommt die Krise.“

Laut dem Schuldneratlas der Auskunftei Creditreform ist Berlin das Bundesland mit der zweithöchsten Schuldnerquote: 13,12 Prozent der Erwachsenen in der Hauptstadt können ihre Rechnungen nicht bezahlen. Nur in Bremen liegt die Quote noch höher. Wo es viel Arbeitslosigkeit, Billigjobs und alleinerziehende Eltern gibt, die sich mit wenig Geld durchschlagen müssen, gibt es auch viele, die stets hart am finanziellen Abgrund wirtschaften müssen. Knapp 6,6 Millionen Menschen gelten in Deutschland als überschuldet, fast jeder zehnte Erwachsene. Männer sind fast doppelt so oft betroffen wie Frauen. Die Hauptgründe: Arbeitslosigkeit, Trennungen, Krankheit. Eine „unwirtschaftliche Haushaltsführung“ sieht der Schuldneratlas erst auf Platz vier der Ursachen. „Leider wird den Leuten oft unterstellt, sie könnten nicht mit Geld umgehen“, sagt Erika Schilz, Sachgebietsleiterin der Schuldnerberatung der Stadt München. „Aber es sind immer noch die Einbrüche im Lebenslauf, die hauptsächlich zur Überschuldung führen.“

In Berlin startet Gerichtsvollzieher Wolfgang Damm an diesem Morgen um 9 Uhr seine Tour. Bei 20 Schuldnern hat er sich angekündigt, um mit ihnen zu besprechen, ob sie wenigstens einen Teil ihrer Schulden begleichen können. Was soll vollstreckt werden, wenn es nichts zu holen gibt? Bei 17 Schuldnern klingelt Damm vergeblich.

Thorsten Kramer (Name geändert) gehört zu den wenigen, die den Gerichtsvollzieher in die Wohnung lassen. Eine schöne Wohnung mit Dielen und hohen Decken, im Flur hängt ein Sportfahrrad, die Küche ist blitzblank. Kramer war freiberuflicher Grafiker. Bis sein wichtigster Auftraggeber absprang und bei ihm kurze Zeit später multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Jetzt lebt er von Hartz IV. „Ich würde gerne wieder arbeiten. Ich war aus Überzeugung Grafiker“, sagt der 44-Jährige. „Dass ich mal nicht mehr arbeiten könnte, damit habe ich nie gerechnet.“

Große Rücklagen habe er nicht gebildet. Das Finanzamt will noch ein paar Tausend Euro, die Rentenversicherung ebenfalls. „Können Sie denn der S-Bahn etwas zahlen, wenigstens einen Teil?“, fragt Damm. Kramer schüttelt den Kopf. Er ist schwarzgefahren. Das waren mal 40 Euro Strafe, mit Mahnungen und Zinsen stehen inzwischen 240 Euro an. Damm packt seine Sachen ein. „Weil die Leute kein Geld haben“, sagt er draußen auf der Straße, „fahren sie schwarz, die Strafe können sie nicht zahlen, und dann wird es immer mehr.“

Für den Gläubiger bleibt nichts

Eigentlich ist es der Job des Gerichtsvollziehers, die Ansprüche der Gläubiger durchzusetzen. Aber wie soll er das bei jemandem wie Kramer tun? „Ich hätte natürlich das Fahrrad mitnehmen können“, sagt Damm. „Das bringt in einer Versteigerung vielleicht die 240 Euro ein. Aber dafür muss ich es erst abtransportieren lassen. Dafür muss ich eine Firma beauftragen, und die Versteigerung kostet Gebühren – am Ende bleibt für den Gläubiger nichts übrig. Im schlimmsten Fall zahlt er noch drauf.“ Seit 30 Jahren arbeitet Damm als Gerichtsvollzieher in Berlin. „In den Achtzigern habe ich oft Videorekorder gepfändet“, erzählt er. „Aber da gab es auch noch keine großen Elektromärkte.“ Selbst HD-Fernseher verlören mittlerweile rasch an Wert. „Da gehen die Leute lieber in den Elektromarkt mit den schönen Angeboten: Kaufen Sie heute, zahlen Sie in zwei Jahren.“

Solche Konsumentenkredite sind es, die Verbraucherschützern Sorgen machen. Nach Angaben des Bankenfachverbands nutzt jeder dritte Privathaushalt in Deutschland regelmäßig Ratenkredite, um sich Urlaube, Autos, Laptops oder Fernseher zu finanzieren, das Kreditvolumen lag im vergangenen Jahr bei 41 Milliarden Euro. „Die meisten gehen ja verantwortungsvoll mit diesen Krediten um“, sagt Marion Kremer, Vizepräsidentin des Bundesverbands Deutscher Inkasso-Unternehmen (BDIU). „Aber man sollte sich klarmachen, dass man mit solchen Krediten auf Jahre eine Zahlungsverpflichtung eingeht für Dinge, die nicht werthaltig sind.“

„Es gibt beide Seiten: Diejenigen, die den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen und um elf Uhr schon drei Bier getrunken haben, mit denen können Sie nicht reden. Und dann gibt es die, die wirklich versuchen, aus dem Schuldensumpf herauszukommen.“ Für die hat Damm Hoffnung: „Eigentlich gibt es immer eine Lösung“, sagt er. Das kann der Antrag auf Privatinsolvenz sein oder ein Tilgungsplan in Eigeninitiative. Damm hatte mal einen Schuldner, der mit Zehntausenden Euro in der Kreide stand. Sie vereinbarten, dass er immer wenn er Geld übrig hatte, Damm etwas zur Befriedigung der Gläubiger gab. Heute ist der Mann schuldenfrei.