Erzieherinnen leisten Schwerstarbeit für wenig Geld. Ein Besuch bei Jessica von Bargen im Horneburger Kindergarten zeigt das.

Horneburg.. Die dreijährige Lena sitzt noch am Frühstückstisch und hat gerade ihre Milch umgekippt. Aus dem Augenwinkel sieht Jessica von Bargen, wie sich die weiße Überschwemmung zügig über die Tischkante ausbreitet. Aus der Spielecke ruft Thilo, ob er irgendwas haben kann. Was, ist kaum zu verstehen, weil sich draußen auf dem Spielschiff gerade zwei Jungen lautstark in die Haare kriegen. Eigentlich müsste die Erzieherin sofort gucken, was da los ist. Das geht aber nicht, weil ihr nun Lisa breitbeinig mit voller Windel entgegenschwankt. Während sie die Dreijährige auf den Arm nimmt, kommt Marco herein und beschwert sich: "Die haben meine Mütze geklaut."

Es ist 10 Uhr morgens im Horneburger Kindergarten Hoki, und die Situation stresst Laien beim bloßen Zuschauen. "Das? Das ist doch noch gar nichts", sagt Jessica von Bargen und lacht. Für die 28 Jahre alte Erzieherin ist heute einer der entspannteren Tage. Denn regulär ist der Kindergarten in den Ferien geschlossen, und mit Kindergartenleiterin Margit Riedel, 55, betreut Jessica von Bargen im Moment "nur" eine zehnköpfige Notgruppe.

Im Normalbetrieb hat sie hier 25 Kinder. Das erfordert pausenlose Präsenz und Konzentration. Denn die Kleinen, so ist es gewollt, tun nicht alle das Gleiche, sondern wuseln selbstständig durch die Gegend. Der vierjährige Paul zeigt zwei anderen Kleinen in der kindergarteneigenen Werkstatt nebenan, wie man ein Stück Holz einspannt und zersägt. Das darf er, denn Paul hat seinen "Werkstattführerschein" gemacht und kann umgehen mit Gerät und Material. Im Blick haben muss die Erzieherin das Geschehen dennoch.

Jessica von Bargen ist ausgebildete Erzieherin, arbeitet auf einer Vollzeitstelle im Hoki. Die Horneburgerin ist eine von jenen Fachkräften, von denen aktuellen Schätzungen zufolge bundesweit rund 20 000, in Niedersachsen rund 2000 fehlen werden, wenn ab August 2013 der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz greift. Jessica von Bargen wundert das nicht. Ihr Job ist anstrengend, schlecht bezahlt und in der Öffentlichkeit noch immer weitgehend verkannt.

Was in guten Kindergärten heute stattfindet, ist frühkindliche Pädagogik auf höchstem Niveau. So will es das Gesetz, so wollen es die Einrichtungen selbst. "Jedes Kind soll in seiner Entwicklung individuell und gezielt gefördert werden", nennt Margit Riedel den Leitsatz. Das bedeutet in der Praxis: "Wir müssen jedes Kind erst einmal genau kennenlernen, beobachten, Defizite erkennen und überlegen, was kann es gut, was muss getan, was nachgeholt werden."

Bei 25 Kindern in einer Gruppe ist das ein täglicher Kraftakt für die Pädagogen. Allein deshalb sind Jessica von Bargen und Margit Riedel fassungslos über die Vorschläge, mit denen die Politik das Personalproblem lösen will. "Schlecker-Frauen mal eben umschulen, Langzeitarbeitslose im Schnelldurchlauf ausbilden", sagt die Kitaleiterin. "In den 90er-Jahren hatten wir das Gefühl, die Arbeit der Erzieher wird besser anerkannt, im Moment haben wir das Gefühl, es findet wieder ein Rückschritt statt."

Die Kleinen früh zur Eigenverantwortung erziehen, Fähigkeiten erkennen und fördern, all das hat hohen Stellenwert im Hoki. So tagt jeden Dienstag das Gruppenparlament, in dem die Kinder etwa mitbestimmen, welche Geräte angeschafft werden sollen oder was bei Festen gemacht werden soll. "Wir wollen zulassen, dass die Kinder selber merken, was funktioniert und was nicht", sagt Jessica von Bargen. Zur pädagogischen Arbeit kommt die Bürokratie. Alles muss dokumentiert werden. In einem Regal stehen 25 Ordner mit Namen und Foto jedes Kindes, in dem dessen Entwicklungsschritte festgehalten werden: die Stärken, die Interessenschwerpunkte, besondere Momente. "Das setzt voraus, dass man auch mitbekommt, wenn ein Kind sich verändert, einen Entwicklungssprung macht", sagt Jessica von Bargen.

Bei Kindern mit speziellem Förderbedarf ist die Dokumentationspflicht noch umfangreicher. All das stellt hohe fachpädagogische Anforderungen an die Erzieher. Ständige Fortbildungen gehören zum Alltag. "Man muss ja auch erkennen können, ob und was im Argen liegt bei den Kindern", sagt Margit Riedel. Und die Zahl der Kleinen mit deutlichen Defiziten nehme zu. "Viele Kinder sind nicht einmal in der Lage, sich anzuziehen oder einen Frühstücksteller zu holen, wenn sie hierher kommen."

Beide Erzieherinnen lieben ihren Beruf. "Wir machen das, weil wir es gern machen", sagt Margit Riedel. Wer Erzieher wird, um viel Geld zu verdienen, ist fehl am Platz. Selbst nach vielen Berufsjahren kommt eine Vollzeitkraft kaum über 1300 bis 1400 Euro netto hinaus. Davon kann man keine Familie ernähren. Ein Drittel der ausgebildeten Kräfte gibt den Beruf einer aktuellen Studie zufolge wieder auf. Bei Männern sind es sogar vier von zehn.

Wenn Jessica von Bargen abends nach Hause fährt, macht sie im Auto das Radio aus. Krach kann sie dann nicht mehr ertragen. Manchmal fragt sie sich schon, wie lange sie ihren auch körperlich anstrengenden Beruf ausüben können wird. Sie will selbst Kinder haben. Wie sich ihr Job mit eigener Familie vereinbaren lassen wird, weiß sie noch nicht. Bis zur Rente hält kaum eine Berufskollegin durch. Im Durchschnitt gehen Erzieherinnen in Deutschland mit 59 Jahren in den Ruhestand.