Leibniz-Preisträgerin Brigitte Röder ist Expertin für unser Denkorgan

Eine Flut von E-Mails, das Orkantief Xaver im Anmarsch und Brigitte Röder auf der Heimreise im Zug: Nein, der 5. Dezember 2013 war ganz gewiss kein Tag wie jeder andere für die Neurowissenschaftlerin und bleibt für immer in ihrem Gedächtnis. Als kurz hinter Würzburg die Internetverbindung zusammenbrach, wusste die Professorin der Universität Hamburg immerhin schon, dass sie einen bedeutenden Preis gewonnen hatte. „Ich habe erst nach und nach realisiert, dass ich Leibniz-Preisträgerin geworden bin.“ So zügig wie die Anrufer und Mails zu ihr durchkamen und so stockend wie der ICE sich durch den Sturm bewegte. „Aber bis heute weiß ich nicht, wer mich dafür vorgeschlagen hat“, sagt Röder.

Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis wird jährlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verliehen. Er geht an herausragende Wissenschaftler, die in Deutschland tätig sind und von administrativem Aufwand entlastet werden sollen. Für die Förderung kann man sich nicht bewerben, sie wird nur auf Vorschlag Dritter gewährt und ist mit bis zu 2,5 Millionen Euro pro Preisträger hoch dotiert. „Das ist die höchste Auszeichnung, die ein Wissenschaftler in Deutschland erhalten kann. So eine Art deutscher Nobelpreis“, meint Prof. Dieter Lenzen. Deshalb griff er damals auch sofort zum Telefon, um die Neurowissenschaftlerin zu beglückwünschen.

Für den Präsidenten der Uni Hamburg ist der Preis auch eine Bestätigung erfolgreicher Kompetenzbildung: Die Neurowissenschaften sind einer der Forschungsschwerpunkte von Deutschlands viertgrößter Universität. Dabei geht es um die Verbindung von Psychologie und Medizin zur „Erkundung einer der letzten unbekannten Territorien unserer Existenz, dem Gehirn“, sagt Lenzen. „Die Forschungsschwerpunkte der Universität stehen für Interdisziplinarität, Internationalität, Forschungskooperation sowie Leistungsstärke, welche sich wiederum in Preisen und Auszeichnungen manifestiert.“

Wie im Fall Brigitte Röder – wobei die Professorin stets betont, dass der Preis Teamarbeit sei: „Ich erhalte den Preis stellvertretend für die BPNler.“ Die Abkürzung BPN steht für den Arbeitsbereich Biologische Psychologie und Neuropsychologie an der Universität Hamburg, den Brigitte Röder leitet. 30 Wissenschaftler, davon 70 Prozent Frauen, beschäftigen sich hier mit Fragen, wie das menschliche Gehirn durch Erfahrung geformt wird, wie sich die Sinne verändern, wenn ein Sinnessystem fehlt und später wieder verfügbar ist, und wie man die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns im Erwachsenenalter fördern kann. Die Forscher sprechen von Neuroplastizität, die sie mit Hirnstrommessungen (EEG) oder bildgebenden Verfahren wie der Kernspintomografie untersuchen. „Mit unserer Forschung sind wir nicht immer konventionellen Wegen gefolgt“, sagt die Professorin. Umso mehr freue sie sich über die Auszeichnung. „Das ist ein gutes Signal für meine Mitarbeiter: Wir sind auf dem richtigen Weg.“

Nicht immer gab es diese Signale: „Zu Beginn meiner Promotion riet man mir davon ab, mich weiter mit den kompensatorischen Leistungen blinder Menschen zu befassen. Damit könne man keine Karriere machen.“ Brigitte Röder hielt dennoch an ihrem Thema fest: „Einfach, weil es mich interessiert hat.“ Sie selbst sei ein ausgesprochen visueller Typ: „Ich denke und lerne in Bildern.“ Umso mehr haben sie die anderen Sinne, das Tasten und Hören, fasziniert. „Es ist enorm, welche Leistungsfähigkeit blinde Menschen entwickeln können. Wie muss sich das Gehirn verändern, damit dies möglich ist?“

Das Herausarbeiten eigener Interessen, die Prüfung wissenschaftlicher und alternativer Karrierewege und schließlich das konsequente Verfolgen eigener Ziele sind Vorgehensweisen, die Röder den Nachwuchskräften ans Herz legen möchte. Am besten sei es, schon als Bachelor in Forschungsprojekten mitzuarbeiten, um die eigenen Schwerpunkte auszuloten. „Die Begeisterung trägt über steinige Strecken“, weiß die Langstreckenläuferin. Und die gehörten ebenso wie Frustrationserlebnisse zur modernen Forschung dazu: „Die Publikation der gesammelten Daten ist oft mühsam.“

Bis zu Röders Forschungsstipendium in den USA Mitte der 90er-Jahre war überhaupt nicht klar, ob die Psychologin eine wissenschaftliche Karriere wagen sollte. Doch dann war sie infiziert von dem Virus der Grundlagenforschung. Zurück an der Universität Marburg, bekam sie nicht nur mehrere nationale und internationale Auszeichnungen, sondern auch die Leitung einer der ersten Emmy Noether-Nachwuchsgruppen (siehe Kasten), bevor sie 2003 dem Ruf an die Universität Hamburg folgte. Hier holte Röder 2010 den Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats ERC. Eine finanzielle Absicherung mache zusätzlich frei für echte Innovation: „Man beginnt riskantere Projekte und kann Neues entdecken.“

Genau diese Freiheit der Forschung und Lehre will der Leibniz-Preis ermöglichen. Weder Anträge noch Zwischenbegutachtungen oder Berichte seien damit verbunden, betonte DFG-Präsident Peter Strohschneider bei der Preisverleihung: „Sie dürfen dem Eigensinn Ihrer Erkenntnisprozesse folgen, auch für das schwer oder gar nicht Kalkulierbare. Aber dies doch nur, weil die, die den Preis finanzieren und verleihen, sehr zuversichtlich sind, dass Sie genügend Selbstzwänge entwickeln.“

In der Tat hat das Team um Brigitte Röder einiges vor: Nach Indien reisen und Patienten untersuchen, die für viele Jahre mit angeborenem Grauen Star erblindet waren, hinterfragen, wie Fehlentwicklungen nachträglich korrigiert werden können und eine neue Fakultät für Psychologie und Bewegungswissenschaft an der Universität Hamburg aufbauen. Nur eine Frage bleibt für Röder weiterhin offen: Wer sie für den Preis empfohlen hat. „Das ist vertraulich“, sagt DFG-Sprecher Marco Finetti.