Mit oder ohne Abitur, mit oder ohne Akademiker-Eltern, mit oder ohne Migrationshintergrund: Die Studierenden bringen sehr unterschiedliche Voraussetzungen mit – das Universitätskolleg will ihnen den Übergang an die Hochschule erleichtern

Als Ute Meyer vor zehn Jahren an der Universität Hamburg ein Studium der Germanistik beginnen wollte, war sie noch eine echte Exotin: Sie war 27 Jahre alt, die allgemeine Hochschulreife hatte sie nicht, dafür einen Realschulabschluss, eine Lehre als Buchhändlerin und mehrere Jahre Berufserfahrung. Und nun saß sie einem Professor gegenüber, um sich nach einigen Internetrecherchen für die bevorstehende Eingangsprüfung für Berufstätige beraten zu lassen. Der sagte überrascht: „Ich wusste gar nicht, dass man hier auch ohne Abitur studieren kann.“

Ute Meyer muss heute schmunzeln, wenn sie sich an diesen ersten Kontakt mit der Universität erinnert: „Da war ich schon etwas irritiert.“ Doch schnell wurde alles gut: Der Professor interessierte sich sehr für ihren Blick auf die moderne Literatur. Er war in der mündlichen Eingangsprüfung mit dabei und erkundigte sich auch später immer wieder nach ihr, dem Studium und ihren Erfahrungen. Heute hat Ute Meyer einen Magistertitel und berät als wissenschaftliche Mitarbeiterin selbst Berufstätige ohne Abitur, die studieren wollen: Ist die Hochschule etwas für mich? Was ist Wissenschaft? Wie finanziere ich mein Studium? „Meine eigene Geschichte hat da sicher eine Rolle gespielt, dass ich heute das tue, was ich tue“, sagt Ute Meyer. „Ich weiß genau, um was es geht.“

Seit zwei Jahren ist ihre Arbeit nun auch Teil eines großen Ganzen: 2012 hat die Hochschule unter dem Dach eines neu gegründeten Universitätskollegs 42Projekte aus allen Fakultäten gebündelt, die Studierenden den Weg in die Wissenschaft ebnen und ihnen unmittelbar vor und während der ersten Semester helfen sollen. Dieser in Deutschland laut Uni Hamburg einzigartige Verbund wird insgesamt vier Jahre lang mit 12,8 Millionen Euro größtenteils aus dem „Qualitätspakt Lehre“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert – und er trägt dem Umstand Rechnung, dass sich auf dem Campus mittlerweile mehr Exoten denn je finden, die Mischung bunter geworden ist: Die Zusammensetzung der Studierenden hat sich in den vergangenen Jahren massiv verändert.

„Einen klassischen Normaltypus gibt es nicht mehr. Heute studiert die Hälfte eines Abiturjahrgangs – und damit so viele wie noch nie. Die Wege in die Universität sind vielfältiger geworden, und die Studierenden bringen immer mehr unterschiedliche Voraussetzungen mit“, sagt der Bildungs- und Transformationsforscher Prof. Hans-Christoph Koller von der Fakultät für Erziehungswissenschaft. Die einen haben Akademikereltern, die anderen sind die ersten ihrer Familie, die in einem Hörsaal sitzen. Manche sind wegen der verkürzten Gymnasialzeit noch keine 18 Jahre alt und besuchen dieselben Vorlesungen wie 30-Jährige, die schon durch die Welt gereist sind, einen Beruf ausgeübt oder Kinder haben. Drei Prozent der Studienanfänger des letzten Wintersemesters hatten kein Abitur – und zwölf Prozent der Studenten haben keine deutsche Staatsangehörigkeit. Es kommen mittlerweile nicht nur Gäste für ein paar Semester nach Hamburg, sondern auch junge Leute aus Spanien oder Italien, die ihr gesamtes Bachelorstudium in der Stadt verbringen. „Die Lebenswege und Bildungsbiografien der Studienanfänger weisen Unterschiede auf, die sich nicht mehr mit überkommenen Routinen bewältigen lassen, sondern nach neuen Antworten verlangen“, sagt Koller. Die Uni hat eine große Aufgabe: Sie muss die verschiedenen Erfahrungshintergründe der Studenten in der Hochschulwelt vereinen – denn dort werden dann in den Fächern an jeden dieselben Anforderungen gestellt.

Im Universitätskolleg wurden die verschiedenen Projekte daher thematisch zusammengefasst: Wie die einzelnen Stufen einer Treppe geben sie Orientierung und Sicherheit, damit die Studierenden Schritt für Schritt in das neue Umfeld hineinwachsen können. Online-Selbsttests wie zum Beispiel in der Rechtswissenschaft oder der Informatik helfen Interessierten, ihr eigenes Können und ihre Erwartungen einzuschätzen und das zu studieren, was auch wirklich zu ihnen passt. Mit Crash-Kursen lässt sich dann das Wissen in verschiedenen Fächern, die es an der Schule nicht gab, erweitern. Bestimmte Gruppen wie Lehramtsstudenten, internationale Studierende oder Berufstätige ohne allgemeine Hochschulreife können sich speziell begleiten und beraten lassen. Die meisten Projekte des Universitätskollegs sollen den Studierenden das akademische Lernen und Schreiben vermitteln und ihnen die Hochschule als Institution vertraut machen – unterstützt von Mentoren und Tutoren, die ihre eigenen Erfahrungen weitergeben.

Auch Franziska Neubauer und Özlem Alagöz wussten am Anfang nicht, wie Studieren funktioniert. Franziska Neubauer hatte mit 16 Jahren eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation gemacht und als Angestellte mehrere Jahre in einer Patentanwaltskanzlei gearbeitet. „Doch ich habe immer davon geträumt, mich im sozialen Bereich zu engagieren und an die Uni zu gehen“, sagt die heute 32-Jährige. Seit drei Semestern studiert sie nun Erziehungswissenschaft und beschäftigt sich mit Themen wie „Handlungskompetenzen in der Sozialpädagogik“ oder „Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung“.

Gleich nach der Orientierungswoche wurde sie zu einem Studienstart-Workshop für Berufstätige ohne Abitur eingeladen. „Ich hatte viele Fragen im Kopf, und die anderen Teilnehmer hatten genau dieselben Probleme wie ich: Wie stelle ich den Stundenplan zusammen? Wie halte ich ein Referat? An wen wende ich mich bei finanziellen Fragen?“, sagt Franziska Neubauer. „Der Austausch hat mir sehr geholfen.“

Ute Meyer hat das Netz für Studierende nun noch enger geknüpft: Neben dem Workshop gibt es Beratungen, einen Stammtisch, Veranstaltungen wie „Lernen lernen“ und ein Tutorenprogramm. „Für einige sind kulturelle Hürden ein größeres Problem als die eigentliche Studierfähigkeit“, sagt Ute Meyer. „Manche haben das Gefühl, dass sie an einem Ort sind, der eigentlich für andere vorbestimmt ist. Daher ist es wichtig, dass Berührungsängste genommen werden und die Berufstätigen eine selbstbewusste Haltung entwickeln.“

Özlem Alagöz hingegen hatte erst im zweiten Semester ein paar Schwierigkeiten – als die Lehramtsstudentin ihre erste Hausarbeit schreiben musste. „Ich war total überfordert“, sagt die 24-Jährige. Ein Bekannter aus einem höheren Semester hat sie dann bei ihrem ersten Text begleitet. Sie bekam eine Einweisung in die Wissenschaftssprache – und eine gute Note, doch Özlem Alagöz reichte das nicht, sie wollte ihr Schreiben weiter verbessern. „Ich werde einmal selbst Deutsch unterrichten, daher ist es mir wichtig, dass meine eigenen Texte gut sind.“

Durch einen Aushang wurde sie auf die „Schreibwerkstatt Mehrsprachigkeit“ aufmerksam, eine Schreibberatung für Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund. Mittlerweile ist sie selbst Schreibberaterin und erklärt anderen, ob man in Hausarbeiten das Wort „ich“ verwenden darf oder warum es besser ist, sich auf einen Text zu konzentrieren und nicht drei gleichzeitig abzuarbeiten. „Wir wollen die Studenten aus der Einsamkeit des Schreibtisches herausholen und ein wachsendes Netzwerk schaffen“, sagt die Projektverantwortliche Dagmar Knorr. „Wir erklären Studierenden die Konventionen akademischer Texte und leiten sie an, eigene Schreibstrategien zu entwickeln. Und dann sollen sie schreiben. Denn Schreiben lernt man nur durch schreiben.“ Neben den Beratungen sollen ein Schreibcafé und ein spezielles Schreibzimmer die idealen Voraussetzungen dafür schaffen.

Die „Schreibwerkstatt Mehrsprachigkeit“ wird ebenso wie alle anderen Teilprojekte des Universitätskollegs regelmäßig evaluiert und wissenschaftlich begleitet. Dabei geht es um die Fragen: Was funktioniert? Was nicht? Was lässt sich auf andere Fächer, Fakultäten und Studierende übertragen? Erfolgreiche Ansätze und Konzepte sollen sich in der gesamten Universität verbreiten und dort verankert werden. Im besten Fall wird das Universitätskolleg nicht das bleiben, was es jetzt ist: ein großes Entwicklungslabor.

„Unser langfristiges Ziel ist es, das Universitätskolleg selbst finanzierbar zu machen und in den Regelbetrieb zu überführen. Idealerweise soll uns das Universitätskolleg zudem zu einer Neuordnung der Studieneingangsphase führen“, sagt Prof. Dr. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg. Nach dem Vorbild amerikanischer Colleges könnte es in Hamburg in mehreren Jahren ein verpflichtendes „Studium Generale“ geben: allgemeinbildende Sachverhalte, die in das Bachelorstudium mit einfließen, Orientierung geben, das akademische Lernen sowie unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven vermitteln – und damit allen Studenten gleichermaßen den Weg an die Universität ebnen.